Ich ging dem Reiter entgegen. »Mukali!«, rief ich und vergaß alle Höflichkeitsfragen. Ich hatte ihn seit unserem Aufbruch im Lager des Khan vor wenigen Wochen nicht mehr gesehen und begrüßte ihn wie einen älteren Bruder.
»Ich bin auf dem Weg in Dschingis Khans Ordu und euer Lager liegt auf meinem Weg. Da dachte ich, ich besuche dich und deine schöne Mutter.«
Das war eine glatte Lüge. Nicht dass meine Mutter nicht schön war, aber unser Lager lag von Mukalis Sommerlager aus nicht auf dem Weg zum Ordu des Khan. Mukali hatte einen Umweg von drei Tagen gemacht, um meine Mutter zu besuchen.
»Mutter ist bei den Stuten. Wir haben nicht mit Euch gerechnet! Was wollt Ihr im Lager des Khan, Mukali?«
»Dschingis Khan will ein Fest veranstalten. Satscha ist schon bei ihm. Sie erwarten mich.«
Mukali hatte sich nach einem mehrtägigen Aufenthalt in unserem Ordu und im Bett meiner Mutter bereit erklärt, mich mit ins Lager des Khan zu nehmen und nach dem Fest wieder bei meiner Mutter abzuliefern. Als Mukali und ich im Lager des Khan eintrafen, waren die Vorbereitungen für das Fest in vollem Gang. Überall roch es nach Hammel und frischgeschlagenem Airag. Vor den Jurten hockten Frauen und Kinder, die Wild zerlegten oder frischen Käse zum Trocknen in die Sonne legten.
Am nächsten Morgen zelebrierte Kökschu die Riten des Festes. Er trug jetzt ein anderes Gewand, aufwändiger noch als das alte. Die Deel war ganz aus chinesischem Brokatstoff, der golden in der Sonne schimmerte. Darüber waren unendlich viele geflochtene Schnüre aus Pferdehaar und noch mehr bunte Bänder befestigt. Vor seiner Brust hing der Schamanenspiegel, der bei jeder Bewegung des Schamanen mit einem metallischen Geräusch gegen ein Amulett schlug. Man konnte Kökschu nun nicht mehr überhören.
Den ganzen Vormittag waren aus den umliegenden Ordus weitere Gäste eingetroffen, deren Pferde in einen Pferch außerhalb der Jurtenkreise geführt wurden. Temudschins Bruder Belgutai und der Dschurkin Buriboko, der für seine Kraft und Geschicklichkeit als Ringer berühmt war, bewachten gemeinsam die Pferde. Als Mukali und ich am Pferch vorbeigingen, führten Belgutai und Buriboko gerade den Adlertanz auf, mit dem traditionell ein Ringen begann. Ich hatte schon unzählige solcher Kämpfe zwischen Kriegern gesehen, die sich damit auf den Pferdeweiden die Zeit vertrieben. Doch Mukali nahm meine Hand und hielt mich zurück. »Gleich wirst du etwas erleben, Temur!«, flüsterte er mir zu. »Buriboko wird gewinnen!«
»Woher wisst Ihr das, Mukali?«
»Er hat noch nie verloren. Er kann ein Fohlen hochheben und umwerfen, um ihm die Beine zu fesseln.«
Ich sah Buriboko zweifelnd an. »Der Bruder des Khan sieht auch sehr kräftig aus.«
»Kraft allein reicht beim Ringen nicht aus, mein Sohn. Schnelligkeit und Geschicklichkeit sind mindestens genauso wichtig, wenn du deinen Gegner in die Knie zwingen willst.«
Dschingis Khan begrüßte die geladenen Gäste auf der weißen Filzdecke vor dem großen Zelt. Neben ihm saß Satscha Beki, der den Klanführern hoheitsvoll zunickte. Viele der Bekis waren mit ihren Frauen gekommen. Mukali jedoch war allein.
Er verbeugte sich vor dem Khan und ließ meine Hand nicht los.
»Mukali!«, rief Dschingis Khan erfreut. »Ich freue mich, dass du meiner Einladung gefolgt bist. Mit einem so tapferen Dschurkin-Krieger in meinem Ordu kann uns nichts mehr passieren.«
Mukali lächelte höflich. »Ich danke Euch für die Einladung, mein Khan.«
Die himmelblauen Augen des Khan richteten sich auf mich. »Deine Eskorte ist noch sehr jung ...«
Mukali grinste. »Keine Leibwache, mein Khan. Temur ist mein Sohn.« Ich muss ihn ziemlich überrascht angesehen haben, denn der Khan begann zu lachen. »Nun, Temur wird in wenigen Wochen mein Sohn sein. Wenn ich seine Mutter überredet habe, zu mir zu ziehen«, ergänzte Mukali eilig.
»Dann hoffe ich auf eine Einladung zu deiner Hochzeit, Mukali.«
»Lasst uns nicht während der Schlacht vom Sieg sprechen, mein Khan.«
Temudschin nickte. Meine Mutter hatte Mukalis Antrag offensichtlich abgelehnt. Aber warum?
Nachdem der Khan und Satscha alle geladenen Gäste begrüßt hatten, nahmen wir am Rand der großen Filzdecke Platz.
Dschingis Khan, seine Gemahlin Börte Khatun, seine Mutter und dessen Gemahl Munlik nahmen auf der uns gegenüberliegenden Seite der Decke Platz. Munlik winkte mir zu. Auf unserer Seite der Decke saßen Satscha Beki und seine Frauen und Mukali. Auch die anderen Klans waren durch Fürsten vertreten. Dschingis Khans Brüder sowie seine Freunde Bogurtschi, Dschelme und Subotai saßen zwischen den beiden Reihen der Klanführer.
Das Essen war wunderbar. Es gab Murmeltier, Ziege und Hammelfleisch, dazu fette Fleischbrühe und Fladenbrot. Der Khan war in den letzten Tagen auf der Jagd gewesen und hatte außerdem Unmengen von Rebhühnern und Hasen erlegt.
Ich stopfte das köstliche Fleisch in mich hinein, als sei ich nach einem langen und harten Winter halb verhungert. Immer wieder spießte mein Vater Mukali mir ein Stück Fleisch auf und reichte es mir. Und auch der Khan verteilte mit seiner Dolchspitze immer wieder kleine Stückchen Braten als Auszeichnung an seine Gefolgsleute. Sogar ich erhielt ein Stück!
Plötzlich erhob sich der Khan und bat mit einer herrischen Handbewegung um Ruhe. Die Musik und der Gesang versiegten wie ein Flusslauf im Sand der Wüste. »Ich will etwas sagen«, kündigte er an. Dann horchte er in sich hinein, als wüsste er noch nicht genau, was er sagen wollte. Es wurde still.
»Ich habe einen Traum«, begann er und sah in die erwartungsvollen Gesichter seiner Gefolgsleute. Der Khan lief auf der Filzdecke zwischen den Schüsseln mit Fleisch hin und her und stieg über die Brotkörbe hinweg. Dabei hatte er die Trinkschale mit Airag hoch erhoben. »Dieser Traum lässt mich die Gegenwart vergessen.« Ich sah in die Gesichter der Gäste: der Khan – ein Träumer ? Satscha runzelte die Stirn, Mukali verfolgte den Flug eines Adlers am Himmel. »Dieser Traum lässt mich die Zukunft ertragen. Er gibt mir Hoffnung, denn er zeigt mir, dass ich die Zukunft verändern kann«, fuhr der Khan mit geschlossenen Augen fort, als wollte er sich von den zweifelnden Blicken seiner Gefolgsleute nicht beirren lassen. »Mein Traum zeigt mir das Volk der Mongol, das in Frieden seine Herden weidet, das in Frieden Handel treibt, das in Frieden reich wird.« Die Anwesenden sahen ihn erwartungsvoll an. Frieden ? Welche Reaktion hatte der Khan von seinen Gefolgsleuten erwartet? »Frieden. Das ist der Zustand, wenn wir uns nicht gegenseitig die Zelte niederbrennen«, erläuterte er. »Wenn wir nachts ruhig bei unseren Frauen und Kindern schlafen können und die Herden nicht bewachen müssen.«
Alle lachten. Verunsichert, wie mir schien. Wann war zuletzt Frieden? Wann hatte nicht ein Klan den anderen überfallen, um Beute zu machen oder die eigenen Herden zu vergrößern? Um die Macht zu sichern?
Der Khan ging zu seinem Freund Bogurtschi hinüber, der als Zeichen seines Amtes als Befehlshaber der Leibwache des Khan einen Köcher mit Pfeilen hinter sich liegen hatte. Der Khan ergriff sechs Pfeile und zog sie aus dem Köcher. Dann kehrte er an seinen Platz zurück, verfolgt von einem unsicheren Blick seines Andas.
Dschingis Khan hob einen der Pfeile hoch. »Ein Pfeil ist eine starke Waffe, nicht wahr?« Die Männer in der Runde nickten zustimmend. »Noch stärker ist der Pfeil, wenn er auf der gespannten Bogensehne liegt.« Die Männer lachten.
Mit einer schnellen Bewegung zerbrach der Khan den Pfeil und hob die beiden Stücke hoch, damit jeder sie sehen konnte. »So gefährlich die Spitze des Pfeils auch ist, er kann zerbrochen werden!«
Ich grinste, denn der Khan spielte mit der Aufmerksamkeit seiner Gefolgsleute wie ein Wolf mit seiner Beute. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er zuschlug.
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