Dann merkte sie, dass sie noch nicht geatmet hatte. Sie hielt anscheinend schon die ganze Zeit den Atem an, wie beim Tauchen. Aber es wurde Zeit, Luft zu holen. Sie versuchte den Kopf zu heben, um an die Wasseroberfläche zu gelangen, aber sie hatte keine Kontrolle über ihre Muskeln. Sie war wie gelähmt. Die Panik stieg in ihr hoch. Es waren ja nur ein paar Zentimeter bis zur Wasseroberfläche, aber ihr Körper ließ sich nicht bewegen.
Sie wusste, sie durfte nicht das Wasser einatmen, das würde sie töten. Sie versuchte zu zappeln und zu strampeln. Was war das nur, ihr Körper gehorchte ihr nicht, diese wenigen Zentimeter waren unüberbrückbar! Sie war doch eine gute Schwimmerin. Sie bot alle Kraft auf, die Panik hatte Besitz von ihrem Körper. Sie merkte, wie sich ihr Körper langsam vergiftete, weil ihm Sauerstoff fehlte. Die Kälte stieg in die Gliedmaßen, als Vorbote des Todes, sie wollte aber noch nicht sterben.
Dann war es ihr egal, sie konnte die Luft nicht länger anhalten, die Lungen brannten höllisch und mit einem tiefen und verkrampften Atemzug sog sie das Wasser im Todeskampf in die Lungen hinein, sie wusste, jetzt war die letzte Sekunde ihres Lebens gekommen. So sah also ihr Tod aus ------------------------------------------Da wurde sie wach. Das Schlafzimmer war stockdunkel, sie konnte nichts sehen. Ihre Bettdecke war nassgeschwitzt von der Todesangst, ihr Herz klopfte bis zum Hals.
Alles war anscheinend ok, sie hatte nur geträumt, versuchte sie sich zu beruhigen. Was für ein schrecklicher und auch schöner Traum war das denn? Langsam bewegte sie ihre Beine, sie gehorchten ihr wieder. Dann den Kopf, er ließ sich locker nach rechts und links rollen. Anschließend hob sie die Arme und damit auch die Decke etwas an. Damit konnte die Feuchtigkeit der nassgeschwitzten Bettdecke entweichen. Sie atmete ein paar Mal leise und tief ein.
Auch das Atmen ging ganz leicht, es war schön, diese frische Luft atmen zu können. Sie versuchte dabei so leise wie möglich zu sein, sie wollte Burkhard nicht wecken. Sie schämte sich für diesen kindischen Albtraum.
Burkhard würde wütend werden, wenn sie jetzt das Licht anschaltete und ihn damit wecken würde. Das würde seinen göttlichen Schlaf unterbrechen. Also beruhigte sie sich und horchte in die Dunkelheit, ob er immer noch ruhig schlief. Hoffentlich hatte sie ihn nicht geweckt!
Aber sie hörte keine Atemgeräusche neben sich. Ihre Fingerspitzen wanderten vorsichtig zu ihm hinüber auf das andere Bett. Sie fühlte nur das Bettlaken und keine Bettdecke. Das Laken war kalt. Sorgfältig wanderte ihre Hand weiter auf dem Laken umher, sie fand Burkhard nicht. Die Bettdecke war noch zurück geklappt, in dem Bett hatte niemand geschlafen. Das war sicher.
Dann endlich traute sie sich, das Nachtlicht anzuknipsen. Das kleine und kalte Licht beleuchtete spärlich den Raum, sie war alleine.
Ach ja, ihr fiel plötzlich ein, Burkhard war bei seinem Freund. Das war immer noch ziemlich neu für sie. Das hatte sie total vergessen. Sie schaute auf den Wecker, es war weit nach Mitternacht. Burkhard blieb mit jedem neuen Treffen immer länger bei seinem Freund, stellte sie fest.
Sie stand fröstelnd auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe und zog den alten Bademantel an, den sie aus dem Schrank holte. Vielleicht war Burkhard ja unten im Wohnzimmer. Sie verließ das Schlafzimmer und schaltete das Licht im Treppenhaus ein. Der Rest des Hauses lag im Dunkeln. Sie lief durch das ganze Haus und schaute in jeden Raum hinein. Von Burkhard weit und breit keine Spur.
Als sie zurück ins Schlafzimmer wollte, blieb sie auf halber Höhe der Treppe stehen. Nein, sie wollte nicht zurück ins Bett, sie könnte nicht wieder einschlafen. Sie drehte sich auf dem Absatz um, hob den Bademantel etwas an und setzte sich auf eine Treppenstufe. Die Treppe hatte mächtig viel Geld gekostet, es war so eine massive und offen gestaltete Echtholztreppe, die das Herzstück des Hauses bildete. Diese Treppe war ihr ganzer Stolz, wie auch der Rest des Hauses. Ihrem Traumhaus.
Von ihrem Sitzplatz auf der Treppe konnte sie fast das ganze Innere des Hauses überblicken. So wie sie da auf der Treppe saß, hatte sie auch direkt die Haustür im Blick. Sie konnte sehen, wenn Burkhard nach Hause kam, schon bevor er die Haustür aufschloss. Der Bewegungsmelder würde sich einschalteten. Das Licht würde sie durch das Fenster sehen, sobald sein Auto die Einfahrt hinauf fuhr.
Sie drehte den Kopf etwas schräg nach hinten und rechts oben, so konnte sie durch das Dachfenster des offenen zweistöckigen Atriums die Sterne sehen. Das fand sie immer noch total cool. Das war ihre Idee gewesen, dieses offene Wohnen.
Draußen war eine kalte und sternenklare Nacht mit Temperaturen weit unter null Grad im März. Das konnte man aber von innen nur erahnen.
Dann erhob sich sie sich etwas von den Stufen, um über die Treppenbrüstung nach unten in den Essbereich zu schauen. Ja, auch der Anblick gefiel ihr, das hatte sie so geplant, als sie die Bauzeichnungen angefertigt hatte, daran hatte sie wochenlang gezeichnet. Sie blickte direkt von oben auf den großen Esstisch aus Vollbuche, den sie liebevoll umrandet hatte mit den gemütlichen Korbstühlen. Der Essbereich lag im Halbdunkeln, nur beleuchtet von der Lampe im Treppenhaus. Wie schön das aussah, wie aus einer dieser Zeitschriften für modernes Wohnen. Das beruhigte sie etwas, es war ihr gut gelungen.
Sie hatte zusammen mit ihrem Mann Burkhard ihren Traum verwirklicht, sie hatten ihr neues Haus gerade fertig gestellt. Die Bauphase war für sie eine elend lange, arbeitsreiche aber auch euphorische Zeit gewesen. Sie fühlte sich zu der Zeit häufig wie eine dieser Trümmerfrauen aus dem letzten Weltkrieg. Sie hatte genau wie diese mit ihren Gummistiefeln monatelang den Schutt weggeräumt.
Wie viele Steine hatte sie hin- und hertransportiert? Sie wusste es nicht. Es waren viele Paletten gewesen, die sie abgepackt hatte. Dabei hatte sie sich immer wieder ausgemalt, endlich durch dieses wunderschöne Haus gehen zu können. Das war ihr Antriebsmotor gewesen, die ganzen Strapazen des Bauens auszuhalten.
Während sie so da saß, schweiften die Gedanken zurück in ihre Vergangenheit, in das Jahr 1973. Damals war sie noch die kleine Pia, ein schüchternes kleines Mädchen mit dünnen braunen Haaren und einer viel zu großen Brille. Ihre Eltern, Dieter und Eva Grauer, waren damals junge Erwachsene. Dieter und Eva Grauer hatten ihre Kindheit im 2. Weltkrieg verbracht und die Jugend bei Aufbauarbeiten in der Nachkriegszeit verpasst.
Die erste Wohnung des jungen Paares war sehr bescheiden, winzig klein und bei Evas Schwiegereltern im Haus. Dann wurde die kleine Pia geboren und danach Sandra. Irgendwann war genug gespart, Eva und Dieter kauften sich von ihrem Ersparten ein altes Fachwerkhaus von 1860 und renovierten es liebevoll.
Wenn es in Pias Kindheit nachts ein heftiges Gewitter gab, sprang Eva ängstlich aus dem Bett. Sie holte den Holzkoffer aus der Kammer, in dem sich das Geld, der Schmuck und sämtliche wichtige Unterlagen befanden. Dieser Koffer stand für Notfälle bereit. Eva klammerte den Koffer angstvoll an sich und zuckte bei jedem Blitz oder Donner zusammen. Dieser Holzkoffer war sehr wichtig für Eva, es sollte ihr nicht noch einmal so etwas Schreckliches passieren, wie in ihrer Kindheit. Sie wollte jederzeit für den Ernstfall vorbereitet sein.
Dann weckte Eva ihre Kinder. Pia und Sandra, die beiden Geschwister mussten sich zu der hyperventilierenden Mutter auf die Treppe setzen. Von der Treppe aus konnten sie innerhalb weniger Sekunden nach draußen gelangen. Das war eine unheimliche Situation, Pia fühlte sich dann so hilflos und fror in ihrem dünnen Nachthemd, während alle auf das Ende des Gewitters warteten und bei jedem Grollen zusammenzuckten.
Pia wollte dann nur zurück in ihr Bett, aber Eva ließ sie nicht gehen. „Pia, so ein Gewitter ist sehr gefährlich. Der Blitz kann einschlagen, dann brennt das Haus in Sekundenschnelle ab und wir müssen alle sterben. Du musst hier bei mir bleiben.“ Eva war unnachgiebig.
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