Benno musste an der Front im fernen und kalten Russland Fürchterliches durchstehen, seine Briefe enthielten schreckliche Mitteilungen. Es tat so fürchterlich weh, wenn Johanna sie las. In seiner Feldpost stand jedes Mal: „Ich habe solchen Hunger! Es ist so schrecklich hier. Ich vermisse euch.“
Auch für Johanna wurde die Situation immer unerträglicher. Sie war mit dem Krieg, den schlimmen Entbehrungen und den vier Kindern überfordert. Überlebenswichtig war es, rechtzeitig den Bunker aufzusuchen, wenn es Fliegeralarm gab. Das war mit vier Kindern nicht immer leicht. Die Kinder quengelten und wollten nicht mitgehen. Eigentlich hatte niemand mehr die Kraft dem Ruf der Sirenen zu folgen. Oft war Johanna so gestresst und gereizt, es gab kräftige Backpfeifen, wenn ein Kind nicht gehorchte oder vor Erschöpfung einfach nicht weiterlaufen wollte.
Johanna hatte es oft erlebt, dass die schwere Tür zum Bunker von innen fest verschlossen wurde, obwohl draußen noch Menschen um Einlass bettelten.
„Der Bunker ist voll, bitte gehen Sie von der Tür weg und suchen sich woanders Unterschlupf!“ Johanna sprach dann oft mit den Männern und versuchte zu verhandeln:
„Bitte lass wenigstens die arme Frau noch in den Bunker hinein, sie hat doch ein Kleinkind auf dem Arm. Sei nicht so brutal.“
Aber die Männer blieben hart. „Nein, der Platz reicht nicht. Sei ruhig oder geh auch raus!“
Wenn die Sirene endlich Entwarnung gab, nahm Johanna ihre beiden kleinsten Kinder rechts und links an die Hand. Die beiden größeren mussten die kleineren Geschwister anfassen, so bildeten alle 5 eine Kette. Und genau in dieser Formatierung verließen die fünf den Bunker.
Draußen vor der Tür waren die Straßen gepflastert von Leichen, dazwischen auch tote Säuglinge und Kleinkinder.
Eva, Pias Mutter, war inzwischen ein kleines abgemagertes Kind von 5 Jahren, das bereits unzählige Nächte durstig und hungrig im Bunker verbracht hatte. In ihrer kleinen Seele und in den kleinen Seelen ihrer Geschwister war etwas kaputt gegangen, das nie wieder repariert werden würde. Es waren die Bilder, die Verhaltensweisen der Erwachsenen, die unverständliche Abwesenheit des Vaters, die menschliche Kälte um sie herum, die dieses kleine unschuldige Wesen nicht einordnen konnte. Sie verstand auch die Mutter nicht, die sie auf der Gefühlsebene nicht erreichen konnte. Heute würde man sagen, dass diese kleinenKinder schlimme Traumata hatten. Dass sie menschenunwürdig leben mussten, dass sie eine Kindheit hatten, die so grauenvoll war, dass die Kinder innerlich daran zerbrachen. Aber auch für so was war keine Zeit.
Eva zeigte auf einen toten Säugling, der auf dem Bürgersteig lag. Er war so hübsch angezogen. Das gefiel Eva, sie verwechselte ihn mit einer Puppe. Wunderschöne hellblonde Locken umrahmten sein zartes Gesicht. Er sah aus, als ob er schliefe. Sie hatten gerade wieder den Bunker verlassen, als Eva einfach stehenblieb: „Mama, darf ich mit der Puppe spielen?“
Diese Puppe war viel schöner, als ihr Spielzeug zuhause. Wie gerne würde sie diese Puppe im Arm wiegen und seine Haare streicheln. Warum sollte es dort unten auf der Erde im Schmutz liegen bleiben?
Dazu sagte Johanna gar nichts, sondern zog die Kinder mit einem noch festeren Griff schnell nach Hause. „Trödelt nicht“, sagte sie mit einem harten Unterton.
„Mama, Du tust mir weh, zieh bitte nicht so an meinem Arm“, weinte Eva. „Ich kann nicht mehr, meine Beine tun weh, ich habe Durst, ich möchte die Puppe haben.“
Auch Eva hatte seit Stunden nichts mehr gegessen und getrunken. Sie war von der Mutter aus dem Bett gerissen worden, als der Fliegeralarm anfing. Sie verstand nicht, was los war, sondern war sehr böse auf ihre Mutter. Jetzt auf dem Rückweg nach Hause war es dunkel und unheimlich auf der Straße. Nur ein paar vereinzelte schwache Lichtkegel zeigten den Weg. Um sie herum schreiende Menschen, die in alle Richtungen davon strömten.
Es war bitter kalt, Rauchschwaden hingen in der Luft, es roch nach Feuer, nach allerlei undefinierbar Verbranntem. Evas Kleidung kratzte, die Schuhe drückten, der Bauch schmerzte so schlimm vor Hunger, ihr Mund war ausgetrocknet. Auch die anderen Geschwister, und ganz besonders die Kleinste, die Anna, weinten vor Erschöpfung und vor Hunger. Sie wollten nicht mehr weiterlaufen.
Und es war nicht nur die körperliche Erschöpfung, die Eva und ihren Geschwistern in den Gliedern saß. Schlimm waren auch die seelischen Misshandlungen und der Mangel an Liebe und Geborgenheit. Wenn sich die kleinen Kinder trostsuchend bei ihrer Mutter anklammerten, stieß Johanna sie oft weg. Johanna bekam keine Luft, es war so schon unerträglich für sie und die Kinder saugten ihr noch die letzte Lebenskraft aus dem müden Körper. Johanna konnte ihre Kinder nicht mehr trösten, sie konnte nicht mal sich selber trösten.
Als die fünf dieses Mal nach einer weiteren unvorstellbaren Nacht im Bunker um die Häuserecke bogen, sah Johanna schon von weiten mit großem Schrecken, dass das Haus ausgebombt war. Sie wusste, dass es jetzt noch schlimmer für die kleine Familie würde. Sie konnte schon nicht mehr weinen.
Beim Näherkommen sah sie das ganze Elend. Es standen nur noch der Keller und einige Mauerreste. Alles war weg. Das Mehrfamilienhaus lag in Schutt und Asche. Von ihrer bescheidenen Wohnung, den Möbeln, den Betten, den Fotos von Benno, den Papieren, den wenigen Spielsachen der Kinder, es war nichts mehr da. Während Johanna im Schutt noch nach letzten Überbleibsel ihres Lebens suchte, quälten sie fürchterliche Fragen; wo sollten sie heute Nacht schlafen? Wie sollte es jetzt weitergehen? Johanna hatte alles verloren. Und jetzt auch noch den letzten Zufluchtsort, ihre Wohnung. Sie griff in ihre Manteltasche und fühlte den Brief, den sie bereits seit zwei Wochen mit sich herumtrug.
Benno, ihr so geliebter Mann, ihr einziger Halt, war ausgemergelt bis auf die Knochen im fernen Russland gefallen. Es stand in der Mitteilung, dass Benno bei einem schweren Kampf heldenhaft verstorben wäre. Ein grausames Ende für Bennos kurzes Leben. Er wurde nicht mal 30 Jahre alt. Und er hatte doch so viele Träume gehabt. Wie sehr brauchte Johanna ihn jetzt.
Als der Brief kam, hatte Johanna einen Nervenzusammenbruch, aber das interessierte niemand. Alle hatten Schreckliches auszuhalten. Und jetzt hatte man ihr noch die Wohnung weggebombt, was wurde ihr noch alles zugemutet? Sie zitterte am ganzen Körper, aber auch das half ihr nicht. Die Kinder fragten geschockt: „Mama, wo ist unser Haus, wo ist mein Bett, ich bin so müde?“
Johanna wusste von einer Notunterkunft, da ging sie jetzt wortlos hin. Mit den vier kleinen weinenden Kindern an den Händen, die von der Brutalität der Situation gar nichts begriffen. Die noch nicht mal wussten, dass ihr Vater bereits tot war und nie wieder kam, um sie in den Arm zu nehmen. Das hatte Johanna ihnen verschwiegen, sie wollte damit auf bessere Zeiten warten.
2. Kapitel: Das Traumhaus
Sie lag im seichten Wasser auf feinem Sandboden. Ihr Gesicht befand sich etwa eine Hand breit unterhalb des Wasserspiegels. Auf der Wasseroberfläche tanzte das Sonnenlicht sanft auf den Wellen. Sie konnte es von unten sehen. Es sah so wunderschön aus. Sie beobachtete, wie sich das Licht brach. Wie tausend Kristalle in allen Farben des Regenbogens, wie eine Discokugel glitzerte das Licht um sie herum.
Es war absolute Ruhe in ihr, es war so entspannend im Wasser zu liegen. Das Wasser, das sie sanft umspielte, war angenehm warm und streichelte ihr Gesicht. Ihre Haare flatterten sacht um ihren Kopf, wie Algen. Von der leichten Strömung des Flusses bewegt. Es war alles so eigenartig und so schön.
Sie genoss das komische Gefühl irgendwo im Nirgendwo zu sein. Wie kam sie nur hierhin, überlegte sie. Sie war überrascht, dass es so etwas Wunderbares gab. Es war alles so eigenartig und so ruhig.
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