Sie stand gestern im Hof mit einem Brief in der Hand, oder einem Blatt Papier. Sie hat es gelesen und Wut war in ihr Gesicht geschrieben. Dann hat sie einen Stein aufgehoben und hat ihn mit aller Kraft auf den Boden geknallt. Alma ist über den Hof gekommen. Sie hat Hilde so suchend angeschaut. Alma ist eine Kluge. Hat alles Mögliche studiert. Aber leben kann sie nicht. „Ich kann’s zur Post bringen, wenn du willst, ich fahr gerade runter“, hat sie gesagt. Das war penetrant, sie musste den Wutanfall gesehen haben. Der Ziege standen die Tränen in den Augen.
Sie brüllte Alma an: „Du glaubst, du kannst ewig den Kopf in den Sand stecken!? Du glaubst, du musst nichts sehen? Dich blöd stellen? Blöd leben? Bis zum Tod. Dann gibt’s den großen Schock!
Ach, wie ich Euch Doktores liebe! Stehen rum und diskutieren über alles, was bedeutungslos ist. Sonnen sich in der Abstrahlung ihrer Bücher und aller Bücher, die sie je gelesen haben. Ein Zitat jagt das nächste, hochnasige Zitaten-Wettbewerbe von Leuten, die sich erhaben fühlen über andere Leute. Sie quasseln von alternativen Beziehungen, von Freiheit. Alles leere Pappe! Wenn zwei in einer Ecke neben dir wispern, bist du genauso betroffen wie ich. Du fühlst dich gemobbt. Wenn du übergangen und ausgespielt wirst, leidest du, und die große Fassade ist ein Schutzschild vor der kleinen menschlichen Jämmerlichkeit.“
Alma sagte kühl: „Da magst du teilweise recht haben, aber man kann nicht alles erzwingen. Eure konservative Welt verträgt keine Freiheit. Jede Veränderung ist bedrohlich. Das Unveränderliche ist bakterienfrei und tot. Alles bleibt so wie es ist, wenn man’s betoniert. Du glaubst, du kannst Raffa feste bewachen und dann verändert sich nichts. Du denkst, du kannst alles kaufen. Ich bin dir dankbar, dass du die Renovierung vom Hof gezahlt hast. Ich finde es eine gute Sache, aber Raffa ist Raffa, und Geld allein wird ihn zu gar nichts veranlassen.“
Die Ziege wurde weiß wie die Wand. „Oh, diese gotterbärmliche Präpotenz! Jetzt glaub ich, dass du tatsächlich keine Ahnung hast, was abgeht.“
Ich denke, sie ging zu ihren Pferden Trost suchen. Ich hätte jetzt Lust auf einen Apfelcider, leicht und frisch, statt Beruhigungstabletten.
Ezra fragte sich prompt, ob Apfelcider das Richtige für ihn wäre. Das Kochbuch war sein Freund, sein Ratgeber in Sachen Essen, sein Partner. Er nahm sein Kochbuch inzwischen sehr ernst. Der Schinken war vom Teller verschwunden. Das Damaszenermesser warf ihm auffordernde Blicke zu, aber Ezra fand, dass es Schwäche wäre, jeder Aufforderung nachzugeben.
Außerdem gab es da noch ein Anliegen, das durch seinen Hinterkopf schwebte. Es schwebte immer wieder, und sein Bauch überlegte, ob er sich das zutrauen konnte. War er in der Lage, diese Situation unbeschadet zu überstehen? Konnte er in diesem Falle eine Schwäche riskieren? Konnte er seinem Körper trotzen? Er hatte nämlich das Bedürfnis, die „Kreuzwegstationen“ genau zu betrachten. Keine einfache Sache, dem Körper hilflos ausgeliefert, vor Fantasiegebilden zu stehen, die eindrangen, durch alle Körpertüren, als ob sie offen wären, nicht verschließbar. Fantasiegebilde, die wie Aliens das Steuerruder übernahmen und das Körperschiff steuerten, als ob sie ein Recht dazu hätten.
Er wollte aber die Bilder noch einmal genau betrachten. Waren das nur Pornos? Waren sie Provokation für Katholiken? Waren sie alt oder neu? Wer hatte sie aus welchem Grund gemalt?
Ezra wanderte in Richtung „Kloster“. Er hatte beschlossen ES zu riskieren. Seine Hose war gottseidank von der lockeren Sorte. Als er den Kreuzgang sah, stand dort jemand. Das war ihm gar nicht recht. Seine Pläne kaputt!
Aber da war vielleicht ein Informant. Ezra bewegte sich leise. Er konnte das gut. Hatte er geübt, trug weiche Gummischuhe. Und er konnte beim leisen Auftreten ziemlich normale Schritte machen. Keiner merkte, dass er nicht gehört werden wollte. Vor ihm stand ein Mann um die fünfzig mit stark vorspringendem Adamsapfel. Der starrte völlig versunken eine „Kreuzwegstation“ an. Hinter dem Nebengebäude stand sein Traktor, still, ohne laufenden Motor. Er hatte scheint’s was Längeres vor, sonst hätte er ihn laufen lassen. Ezra blieb stehen. Der fremde Bauer machte zwei Schritte, um die nächste Station in gleicher Versunkenheit zu betrachten. Träumerisch stahl sich die Hand unter den Hosenbund und rieb langsam.
Jetzt machte Ezra absichtlich ein Geräusch. Der Mann zuckte zusammen, suchte hektisch nach dem Hosenschlitz und traf Vorbereitungen, als ob das immer so geplant gewesen wäre. „Schweinerei, das…“, presste er durch die Zähne in Richtung Ezra. Ezra machte, als ob er gerade erst gekommen wäre. Er fragte unschuldig: „Was ist eine Schweinerei?“
„ Na die Bilder.“ Ezras fragender Blick kam geradewegs aus dem Himmel. Er stellte sich neben den Bauern, der mit zitternden Händen seine Hose wieder zuknöpfte. Gemeinsam betrachteten sie das Bild. Eine Frau am Boden, kniend vorgebeugt. Zwei Männer hinter ihr, die ihr zwischen die Schenkel griffen. Alle drei waren nackt und rosig erregt.
„ Ich geh immer hierher Wasserlassen“, sprach der Mann in christlicher Keuschheit. Die richtige Antwort fehlte. Also fuhr der Bauer fort: „Schweinerei, das. Die Strafe ist gekommen. Leben wie die Schweine und glauben, das geht so.“ Hörte Ezra da nicht auch ein bisschen Sehnsucht?
„ Nicht nur, dass die so leben, sie malen das dann auch noch“; meinte der Kritiker grimmig, „Malen das, wie wenn’s gottgewollt wäre.“ Offensichtlich eine Assoziation mit Kreuzwegen. Ezra juckte es. Mit den unschuldigsten blauen Augen meinte er: „Ja, aber Gott hat‘s ja auch gemacht.“
„ Was hat er gemacht?“
„ Na, die Geschlechtsteile“, meinte Ezra mit nachdenklicher Stimme, träumerisch, überlegend.
„ Ja, aber Gott will nicht, dass man blöd damit spielt!“, fauchte der Bauer wütend. Ezra fand die Logik interessant. Vor allem schienen Geschlechtsteile etwas zu sein, das man wirklich ernst nehmen musste. Keine Leichtfertigkeiten bitte!
„ Die Bilder sind wahrhaftes Teufelswerk“, rief der Bauer in Richtung Gottes, damit es auch wirklich zu keinen Missverständnissen käme. Wallfahrt zum Teufelswerk und anschließend die Sonntagsmesse.
Ezra meinte sanft: „Ja, einige haben mir schon gesagt, dass der Teufel hier sein Unwesen treibt…?“ Ein klein wenig die Stimme hoch am Ende des Satzes, eine ganz sanfte Frage.
„ Alles ist inzwischen hier vom Teufel. Nicht nur diese, diese Drecksbilder!“, schrie der Bauer.
„ Ja, warum sollte der Teufel auch nur aus Sex bestehen…?“ – lange Pause – „Was ist da wirklich los?“
„ Die Hugelbäuerin ist am Abend da gegangen, vor dem Gewitter. Das Gewitter war schon nah. Der Himmel war ganz rot, und dann hat sie die Sau gesehen, eine riesige. Sie konnte nicht hin, hat sich gefürchtet.“
„ Warum hin?“ Ezra war verwirrt.
„ Na, schaun wie die Grannen stehn. Das sieht man ja von der Entfernung nicht. Die Sau hatte aber einen Sattel, da war sie ganz sicher.“ Ezra war noch verwirrter, er war ratlos, hatte aber das schlimme Gefühl, dass er besser nicht fragte. Blöde Fragen, die jedes Kleinkind beantworten könnte, bedeuten Disqualifikation. Und Disqualifikation bedeutet Ende des Gespräches. Er wollte aber Fortsetzung. „Und was hat sie gemacht?“
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