Durch prachtvolle Gänge wurden mein Vater und ich in einen Wartesaal geführt. Die herrlichen Wandgemälde des Saales zeigten den König beim Opfer vor den Göttern Isis und Osiris, Horus und Maat, Amun und Re. Den neuen Gott Atum konnte ich nirgendwo entdecken. Auf der gegenüberliegenden Wand erkannte ich den König als siegreichen Feldherrn, der über die Feinde von Kemet triumphiert.
Am späten Nachmittag verkündete ein Schreiber: »Seine Göttlichkeit empfängt heute nicht mehr. Kommt morgen wieder.«
Die Wartenden erhoben sich und verließen schweigend den Saal.
Ich ging zum Schreiber hinüber.
»Ihr könnt gehen. Seine Majestät empfängt heute nicht mehr«, wiederholte er.
»Der König erwartet uns. Er hat uns gebeten, heute hier zu erscheinen und ihm die Pläne zu zeigen.«
»Seine Majestät bittet nicht, er befiehlt! Welche Pläne?«
»Der Königliche Bauleiter Kamose soll dem König die neuen Pläne für die Pyramide zeigen und die neuen Berechnungen vorlegen.«
Der Sekretär sah mich erstaunt an, und ich hielt seinem Blick stand. Dann durchsuchte er eine Liste mit angemeldeten Besuchern. »Hier steht: Bauleiter Kamose aus Tis. Wer bist du?«
»Seine Tochter.«
»Du kannst nicht mit hinein. Du musst hier warten.«
Die Sonne war schon lange untergegangen, als mein Vater in das Audienzzimmer geführt wurde.
Ich blieb allein zurück und beobachtete, wie der Schreiber seine Schreibbinsen zusammenpackte und die Schale mit den getrockneten und in Honig eingelegten Zitronenscheiben, von denen er während des Nachmittags immer wieder etwas stibitzt hatte, unter sein Schreibpult schob. Seine täglichen Pflichten als Staatsbeamter schienen erfüllt. Ab und zu warf er mir einen irritierten Blick zu, als hielte ich ihn davon ab, in sein Haus zurückzukehren.
Mein Vater blieb sehr lange fort, und ich wurde immer unruhiger. Was war denn bloß geschehen?
Sobald der Sekretär seinen Platz verließ, schlich ich mich bis zur hohen Tür aus Ebenholz, um daran zu lauschen.
Stille.
Vorsichtig öffnete ich die Tür. Dahinter fand ich einen Gang, der auf ein weiteres Portal mündete. Ich schloss die Türflügel leise hinter mir und huschte den Korridor entlang. Beunruhigt sah ich mich immer wieder um.
Vor dem nächsten Portal machte ich Halt und horchte.
Lautlos schob ich einen Türflügel auf und blickte durch den Spalt. Der Raum, das Schreibzimmer der Sekretäre des Königs, war verlassen. An der gegenüberliegenden Seite lag ein durch einen Leinenvorhang abgeteilter zweiter Raum. Der Audienzsaal!
»Die Berechnungen von Kamose sind völliger Unsinn!«, brachte Nefermaat gerade vor.
Durch das dünne Leinen konnte ich die Szene im Audienzsaal beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.
Prinz Nefermaat und mein Vater saßen in Schreiberhaltung vor dem König. Dieser schien verärgert darüber, dass der Wesir und sein Bauleiter sich nicht über den Neigungswinkel seines ehrgeizigen Bauprojektes einigen konnten.
»Schluss jetzt, Nefermaat! Du hast bisher kein vernünftiges Argument vorgebracht, das für den einen oder gegen den anderen Winkel spricht. Vergiss für einen Augenblick deine Stellung bei Hof und lass dich auf eine sachliche Diskussion mit Kamose ein!«, forderte der König.
»Jedes meiner Argumente ist sachlich!«, knirschte der Wesir. »Die Pyramide wird mit dem Winkel vier zu eins nicht einstürzen!«
»Das stimmt nicht«, sagte mein Vater ruhig. »Sie wird einstürzen.«
»Bei Imhotep«, fluchte der König. »Das kann doch nicht wahr sein! Muss ich mich denn wirklich mit euch beiden herumärgern?«
Als er sich erhob, sank mein Vater auf den Boden und verneigte sich tief vor dem Herrscher.
»Ich befehle euch, gut zusammenzuarbeiten. Das heißt für mich, nur um spätere Interpretationen auszuschließen, mein Grabmal in den vorgegebenen erweiterten Maßen mit dem größtmöglichen sicheren Neigungswinkel zu errichten. Die Audienz ist beendet!«
Am selben Abend – mein Vater und ich waren gerade erst aus Pihuni zurückgekehrt – erwartete uns Aperire im Zelt des Bauleiters. Neben ihm saß ein Priester des Re in Schreiberposition. Beide erhoben sich, als mein Vater das Zelt betrat.
»Kamose, das ist Hemset, der neue Bauleiter aus dem Sonnentempel in Iunu«, stellte Aperire den Priester vor.
Mein Vater stand wie zur Statue erstarrt, bleich und zittrig. Sein Traum zerplatzte. Er presste die Baupläne zusammen, bis der Papyrus brach.
»Hemset, das ist Kamose, den Seine Majestät vor zwei Tagen zum Königlichen Bauleiter ernannt hat«, fuhr Aperire unerbittlich fort.
Hemset kam auf meinen Vater zu und warf sich ihm zu Füßen. »Ich freue mich, dich kennen zu lernen, Kamose.«
Offensichtlich hatte mein Vater mehr Widerstand vom Sonnenpriester erwartet.
Warum klärte Aperire die Situation nicht auf?
»Bitte erhebe dich, Hemset!«, bat ihn mein Vater. »Du musst nicht vor mir knien. Ich bin erfreut, dich kennen zu lernen. Die hierarchische Veränderung muss dich bei deiner Ankunft überrascht haben.«
»Das hat sie, ehrlich gesagt. Aber ein Befehl des Königs …« Hemset ließ den Satz unvollendet.
»Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit. Es wäre schön, wenn du schon morgen deine Arbeit als stellvertretender Bauleiter aufnehmen könntest, Hemset. Wir erwarten morgen den Wesir hier auf der Baustelle. Prinz Nefermaat und ich werden die durch den König überarbeiteten Baupläne berechnen, bevor er zur Baustelle des Hathor-Tempels nach Yunet weiterreist.«
Hemset verneigte sich und verließ zusammen mit Aperire das Zelt.
»Das kann nicht lange gut gehen!«, flüsterte Kamose, als wir allein waren.
»Wofür bist du denn jetzt eigentlich verantwortlich?«, fragte ich meinen Vater, als wir am nächsten Morgen Apis Baupläne und Aufzeichnungen durchsahen.
»Für alles: die gesamte Baustelle«, antwortete mein Vater und sah sich die Pläne an. »Für die Versorgung der Arbeiter mit Nahrung und Kleidung, für die Verwaltung der Arbeiterhütten, für die Lagerhaltung der Lebensmittel wie Gemüse, Getreide und Fleisch, für den Bau der Transportwege für die Steinschlitten, für die Einteilung der Arbeiter und die Abstimmung der Arbeiten an der Baustelle. Und für die Menschen, die hier arbeiten: die Steinbrucharbeiter, die Steinschlepper, die Steinmetze, die Bauleiter, die Priester, die Lagerpolizei, die Bäcker und Schmiede und Schlachter und das Planungsbüro sowie die Verwalter. Außerdem bin ich zuständig für die Planung und Ausführung der Pyramide von den Fundamenten bis zur Pyramidenspitze sowie den Neigungswinkel. Ich bin verantwortlich dafür, dass alles reibungslos funktioniert, niemand Hunger leidet, niemandem ein Stein auf den Fuß fällt, niemand etwas stiehlt und die Pyramide rechtzeitig fertig wird und nicht einstürzt.«
Die letzten Worte hingen noch in der Luft, als Prinz Nefermaat das Zelt betrat.
Mein Vater und ich erhoben uns und warfen uns vor ihm zu Boden.
»Die Pyramide wird nicht einstürzen«, beharrte der Prinz. »Ich bin es leid, mit dir diese endlose Diskussion zu führen, Kamose!« Dann winkte er lässig. »Du darfst dich erheben.«
Ich nahm an, dass ich nicht ausdrücklich angesprochen werden würde, und stand ebenfalls auf.
»Der Befehl des Lebendigen Gottes war eindeutig, Kamose. Ich bin gekommen, um mit dir deine Berechnungen zur Statik der Pyramide durchzugehen. Ich hoffe, dass sich die weite Anreise gelohnt hat!«, sagte Nefermaat in ungeduldigem Tonfall.
»Die Pläne sind hier drüben, mein Prinz.«
Hinter dem Wesir war sein Gefolge aus Architekten und Bauzeichnern in das Zelt gekommen. Zwei Diener trugen einen Klappstuhl hinter dem Prinzen her, auf dem er sich in einiger Entfernung vom Zeichentisch niederließ.
Und so kniete mein Vater vor ihm und breitete den Plan aus, sodass der Wesir seine Berechnungen lesen konnte. Die Bauleiter sahen dem Prinzen über die Schulter und folgten aufmerksam den Erläuterungen: Kamose sprach von achthunderttausend Kubikellen Gestein und von über einer Million Tonnen Gewicht, das auf dem karstigen Wüstenboden lastete.
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