Ich sackte in mich zusammen. Wie hatte ich nur den Fehler begehen können, meinen Vater in diese Situation zu bringen?
Mein Vater erhob sich und ging hinüber zum Tisch, an dem der Herrscher mit dem Wesir stand. Er warf einen langen Blick auf die neuen Pläne, die ich zu zeichnen begonnen hatte, als der König mit wenigen Pinselstrichen die Arbeit eines Abends zunichte machte. »Die neue Pyramide ist fast doppelt so groß!«, rief er entsetzt.
»Gibt es da Schwierigkeiten?«, fragte Prinz Nefermaat erstaunt. Er war Widerspruch offensichtlich nicht gewohnt.
Mein Vater zögerte.
»Sag mir die Wahrheit, Bauleiter! Sind meine Pläne zu ehrgeizig?«, fragte der König.
»Im Namen der Maat: Ja, Euer Majestät ...«
Der Herrscher sah meinen Vater schweigend an. Er wartete den Rest der Antwort ab. Mein Vater war schon zu weit gegangen, um sich jetzt noch aus der Affäre ziehen zu können.
»Diese Baupläne zeigen eine Schale mit einer glatten Außenseite über der achtstufigen Zentralpyramide. Dabei wird die bestehende Basislänge um fünfzig Ellen auf dreihundert Ellen erweitert. Die neue Basis der Pyramide verschlingt sehr viel Steinmaterial, mehr, als wir in der Kernpyramide bisher verbaut haben. Die Steinbrüche haben nicht mehr so viel Material, um die Pyramide in dieser Größe vollenden zu können. Der Sandboden des Plateaus, auf dem die Pyramide erbaut ist, trägt möglicherweise das gesamte Gewicht des vergrößerten Bauwerkes nicht. Und, was noch dazukommt …« Mein Vater betrachtete den Plan und legte den auf dem Tisch liegenden Winkelmesser an. »Der Neigungswinkel der Schrägen ist zu steil. Die Pyramide wird in dieser Form einstürzen.«
Prinz Nefermaat schüttelte den Kopf. Der König sah meinen Vater zweifelnd an: »Einstürzen?«
Nun war mein Vater in seinem Element. Er beachtete den Göttlichen gar nicht mehr und gab sich seinen Skizzen hin. »Eine Pyramide kann entweder in einem Verhältnis drei zu eins oder vier zu eins erbaut werden. Die ursprüngliche Planung sah den flacheren Neigungswinkel vor, Eure Skizze hier nähert sich vier zu eins an und ist damit zu steil.«
Der Lebendige Gott wartete auf weitere Erläuterungen.
Mein Vater zog einen neuen Papyrus hervor. Zwischen den Plänen suchte er nach einem Pinsel. Während Kamose noch die Papyri durchwühlte, ging Nefermaat zum Schreibtisch, holte eine Schreibbinse und reichte sie meinem Vater. Der tauchte den Pinsel in die Tintenschale und malte ein großes gleichschenkeliges Dreieck auf den Papyrus.
»Die Höhe einer Pyramide bemisst sich in königlichen Ellen. Zur Vermessung der Pyramidenbasis können wir keine Ellen nehmen, da ein Seil von beliebiger Länge entweder durchhängt oder reißt. Wir haben daher das Ellenmaß auf eine hölzerne Trommel übertragen. Diese Trommel wird entlang des Fundamentes gerollt. So stellen wir sicher, dass das Ellenmaß immer gleich lang ist. Der Neigungswinkel der Pyramide ergibt sich aus dem Verhältnis ihrer Höhe zu der Zahl der Rollellen vom Zentrum der Pyramide bis zu den Seiten. Das hier ist eine Pyramide im Verhältnis drei zu eins.« Dann malte er daneben ein anderes Dreieck. »Und das hier ist eine Pyramide im Verhältnis vier zu eins. Die Neigung der Seiten ist viel steiler, die Pyramide ist bei gleicher Basis viel höher, die Seitenflächen sind viel länger und benötigen mehr glatte Abdecksteine.« Dann malte mein Vater mit dem Pinsel Pfeile in beide Dreiecke, in das größere mehr als in das kleinere. »Das hier sind die Kräfte, die auf die Pyramide wirken.«
»Kräfte?« Der König hob die Augenbrauen.
»Jeder Stein drückt mit seinem Gewicht auf alle darunter liegenden Quader. Bei dieser flacheren Pyramide werden hundertzwanzig Steinlagen verlegt. Die Kraft wirkt aber nicht senkrecht nach unten, sondern nach außen: Die Pyramide droht zu zerspringen, ja: einzustürzen. Um das zu verhindern, werden die Steinlagen leicht nach innen geneigt verlegt.« Mein Vater sah dem König ins Gesicht, ob er verstanden hatte, doch Seneferus Blick ruhte auf den beiden Skizzen. Dann fuhr er fort: »In der steileren Pyramide sind wesentlich mehr Steinquader verbaut. Solch eine hohe Pyramide hat mehr als hundertzwanzig Steinlagen – vielleicht hundertfünfzig oder noch mehr. Das bedeutet, dass der Druck auf alle darunter liegenden Steine viel höher ist als bei der Pyramide mit dem flacheren Neigungswinkel. Bei der gewünschten Neigung wird der Druck die Steine an der Peripherie regelrecht aus der Pyramide herausschleudern. Die Verschalung wird nicht halten, und die Pyramide wird einstürzen. Vermutlich wird nur der Zentralkern stehen bleiben.«
»Das ist Unsinn! Meinen Berechnungen zufolge hält die Pyramide den Druck von vier zu eins leicht aus«, warf Prinz Nefermaat ein. »Ich bitte Euch, Majestät! Kamose scheint keine Ahnung zu haben.«
Der König blickte vom Plan auf und sah von einem zu anderen. »Nur einer von euch beiden kann Recht haben. Wird die Pyramide bei diesem Neigungswinkel einstürzen oder nicht?«
»Sie wird«, antwortete mein Vater und sah den König dabei an.
»Sie wird nicht «, tobte Prinz Nefermaat.
»Ich befehle, dass ihr beide eure Berechnungen unabhängig voneinander durchführt und mir morgen in der Residenz vorlegt.«
Prinz Nefermaat verbeugte sich vor seinem Bruder, und mein Vater warf sich in den Staub.
Der Netjer begab sich zum Ausgang des Zeltes. »Ich bin sehr zufrieden mit dem Baufortschritt, Kamose. Ich bestätige dich in deinem Amt des Königlichen Bauleiters.« Damit verließ er das Zelt.
Als Prinz Nefermaat an meinem Vater vorbeiging, fauchte er: »Widersprich mir nie wieder, Kamose! Oder deine Karriere ist beendet!«
Wie sollte der Wesir denn ahnen, dass sie gerade erst begonnen hatte?
Aperire beschloss, die Täuschung erst einmal fortzusetzen, zumindest bis zum nächsten Tag. Rein rechtlich war Kamose nun Königlicher Bauleiter der Baustelle von Pihuni, denn wer sollte es wagen, den Befehl des Königs anzuzweifeln?
Ich las meinem Vater die Formeln vor, die Api zur Berechnung der Statik der Pyramide benutzt hatte. Mein Vater konnte weder lesen noch schreiben und stellte die meisten Berechnungen im Kopf an. Ich brachte sie zu Papyrus. Als wir fertig waren, begann ich mit der zeichnerischen Umsetzung der neuen Baupläne in einem Winkel von dreieinhalb zu eins. Mit diesem Neigungswinkel sei die Pyramide noch stabil, erläuterte mir mein Vater.
Kamose wich nicht von meiner Seite, während ich die Pläne zeichnete. Er hatte nun die Verantwortung für die Baustelle übernommen. Noch bevor der Mondgott in dieser Nacht den Horizont berührte, war der Bauplan für die neue Pyramide fertig.
Völlig verschwitzt kamen wir am nächsten Morgen in Pihuni an. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich auf einem Esel geritten: Ein herrliches Vergnügen!
Die Hauptstadt lag inmitten eines Palmenhaines an einem großen Oasensee.
Wie in Mempi bogen sich die Tische der Händler unter der Last der dargebotenen Früchte. Melonen, Zitronen, Granatäpfel und Weintrauben lagen neben wahren Bergen von Zwiebeln, Gurken und Salatköpfen. Die Stände der Bäcker quollen über von Broten aus Weizen und Gerste und von Honigkuchen. Ich sah Affen und Hunde, die als Haustiere verkauft wurden. Fasziniert starrte ich auf die Schmuckgegenstände aus Gold und dem kostbareren Silber, mit Türkisen aus dem Sinai und Lapislazuli aus dem Zweistromland.
Der Duft der Garküchen in den Straßen von Pihuni war überwältigend: Es roch nach Gänsebraten, gegrillten Enten und gekochtem Rindfleisch. An einem Stand nur wenige Schritte entfernt wurde Feigenmus angeboten, an einem anderen Bienenhonig. Welche Köstlichkeiten!
Als Re im Zenit stand, meldeten wir uns bei der Palastwache.
Der Königspalast war ein großer Gebäudekomplex am Rande der Stadt. Durch ein von Türmen flankiertes Tor betraten wir den großen Hof mit den Kriegerhäusern der Palastwache und der Kommandantur. Durch ein zweites Tor gelangten wir in den Palast des Königs, das Haus der Verehrung, wo der Göttliche mit seiner Familie wohnte. Nur wenige Schritte entfernt ragte der Palast des Wesirs auf, das Ministerium für fremdländische Angelegenheiten, flankiert von etlichen Schreiberbüros und einem Archiv.
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