„Haben Sie den Artikel noch fertigbekommen, Frau Schneider?“, fragte er.
Verena nickte.
„Sehr gut“, lobte ihr Chef.
Rolf Neumann war Anfang sechzig und leitender Chefredakteur der Badischen Rundschau , die etwa zehntausend Leser hatte.
„Haben Sie Neuigkeiten über den Mordfall?“, wollte er wissen.
Verena verneinte.
„Nur das, was wir heute schon berichtet haben.“
„Dann kümmern Sie sich darum, dass Sie weitere Einzelheiten erfahren. Ich übertrage Ihnen die Berichterstattung.“
„Und meine andere Arbeit?“, fragte Verena und deutete auf ihren Schreibtisch, auf dem einige Aktenordner lagen.
„Geben Sie das Lothar Hauser, das kann er bearbeiten. Sie kümmern sich um den Mordfall.“
„Okay.“
„Warten Sie … hier habe ich den Namen des zuständigen Kommissariats.“
Er fischte einen Zettel aus seiner Tasche.
„Wenden Sie sich an Kriminalhauptkommissarin Carolin Sommer, die bearbeitet den Fall.“
„Was … Caro?“, entfuhr es Verena.
„Sie kennen die Dame?“, fragte ihr Chef und sah sie neugierig an.
„Ja, sie ist die Schwester meiner Fr … einer Freundin“, erwiderte Verena und wurde rot.
„Aber das ist ja ausgezeichnet“, freute sich Neumann, „dann kommen Sie ja leichter an die Informationen. Aber denken Sie daran, nur seriöse Berichterstattung. Wir gehören nicht zur Klatschpresse und das soll auch so bleiben.“
Mit diesen Worten verließ Rolf Neumann den Raum.
Verena verließ die Redaktion und ging zu ihrem Auto. Unterwegs dachte sie über das eben geführte Gespräch nach. Sie freute sich, dass Neumann ihr so viel Vertrauen entgegenbrachte und ihr die Berichterstattung übertrug. Aber beinahe hätte sie sich verplappert und ‚die Schwester meiner Frau‘ gesagt. Sie hatte gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt. Ob ihr Chef etwas bemerkt hatte? Wohl eher nicht, das ging auch niemanden etwas an. Sie startete den Motor und schlug den Weg zum Kommissariat ein.
Mit Beginn ihrer beruflichen Laufbahn merkte Julia sehr schnell, dass auch die Gerichtsmedizin eine Domäne war, in der, damals zumindest, überwiegend Männer arbeiteten, die eine Frau, zumal noch eine Anfängerin wie Julia, mit Misstrauen, Skepsis und vor allem mit Herablassung betrachteten.
Zu Anfang bekam sie nur die niedrigen Arbeiten zugeteilt, wie z.B. Vorbereitung für eine Obduktion, saubermachen des Raumes nach einer Obduktion, Abheften der Berichte etc.
Nach einiger Zeit frustrierte sie das und sie bestand darauf, anspruchsvollere Arbeiten zu bekommen, z.B. bei einer Obduktion assistieren zu dürfen, was jedoch von ihrem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Chefpathologen, zunächst abgelehnt wurde, mit der lapidaren Begründung, sie sei noch nicht so weit.
Als Anfängerin musste sie sich gegen ihre meist männlichen Kollegen behaupten und durchsetzen. Aber Julia war zäh und blieb am Ball, überzeugte durch Wissen und Kompetenz. Sie konnte sehr gewinnend sein, sich aber auch wehren.
Langsam gewann sie an Ansehen und wurde mit Respekt behandelt und schließlich wurde ihr erlaubt, an einer Obduktion teilzunehmen.
Mit ihren Kollegen und Vorgesetzten kam sie gut aus, blieb aber dennoch distanziert.
Natürlich wurde sie anfangs auch nach ihrer privaten Situation gefragt, nicht direkt, aber doch schon ziemlich deutlich, aber sie wich diesen Fragen immer geschickt aus und antwortete freundlich aber bestimmt. So wusste niemand etwas über ihr Privatleben.
Einige Kollegen spekulierten darüber ob sie wohl verheiratet sei. Keiner wusste genaueres.
„Ich denke, sie ist verheiratet, denn sie trägt einen Ring am rechten Ringfinger“, meinte Florian Läufer aus der Forensik.
„Das ist mir noch gar nicht aufgefallen“, ließ sich nun ein anderer Kollege hören.
„Warum ist das so wichtig?“, fragte Florian.
Er war groß und schlaksig, hatte feuerrote Haare und etliche Sommersprossen, weswegen er den Spitznamen Pumuckl erhalten hatte. In seinem Fachgebiet, der Forensik, war er eine Koryphäe und es gab nichts, was er nicht herausfinden oder ermitteln konnte. Daher versuchten alle, sich mit ihm gut zu stellen, denn jeder hatte früher oder später einmal ein Anliegen, dass er etwas untersuchen sollte.
Auch Julia hatte ihm schon einige Male ein paar Proben zum Untersuchen gebracht. Sie hatten sich ein wenig unterhalten und sich gegenseitig sympathisch gefunden.
Julia mochte ihn, weil er ein umfangreiches Wissen hatte und auch sonst zurückhaltend und nicht so aufdringlich war, wie manch anderer Kollege.
Sie hatte einmal mit Verena darüber gesprochen.
„Er ist unaufdringlich und nett, man kann sich gut mit ihm unterhalten. Das kann ich so ungezwungen mit den meisten Männern nicht.“
„Vielleicht ist er ja schwul“, hatte Verena gemeint.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Ich für mein Teil komme am besten mit schwulen Männern zurecht. Die wollen nichts von mir, baggern mich nicht ständig an. Und sie verstehen die Situation.“
„Hm … vielleicht hast du Recht. Vielleicht stellt es sich früher oder später heraus, dass es so ist.“
Julia hielt die Augen offen und beobachtete Florian aufmerksam, wenn sie ihm Proben zum Untersuchen brachte. Sie konnte aber nicht den kleinsten Hinweis darauf entdecken, dass er schwul sein könnte.
Auch er hielt sein Privatleben unter Verschluss. Sie verstand sich weiterhin gut mit ihm und sie trafen sich oft in der Kantine zu einem Schwatz.
Natürlich blieb das den Kollegen nicht verborgen und entsprechend wurde gelästert.
„ Pumuckl und Fridge “, sagte einer, „was findet sie bloß an dem?“
„Sie unterhalten sich doch nur“, meinte Renate, die ebenfalls in der Forensik arbeitete.
„Worüber denn? Der kennt doch nur seine forensischen Untersuchungen.“
„Ach, und Sie kennen mehr, Dr. Vollmer?“, fragte sie scherzend, aber mit einem ernsten Unterton.
„Die Diskussion ist mir zu dumm“, antwortete Vollmer leicht pikiert und marschierte davon.
„Da will Sie jemand wegen des Mordfalls sprechen, Frau Sommer“, sagte Bernd Hübner vom Einbruchsdezernat, „eine Journalistin.“
Caro stöhnte. Die Presse zu diesem Zeitpunkt hatte ihr gerade noch gefehlt.
„Schicken Sie sie herein“, sagte sie dann.
Hübner trat einen Schritt zur Seite und ließ die Frau vorbei. Dann schloss er die Tür hinter ihr.
„Hallo Caro, wie geht es dir?“
„Verena, was machst du denn hier?“
„Ich möchte etwas über den Mordfall wissen. Mein Chef hat mir die Berichterstattung übertragen.“
„Das ist ja toll. Ich dachte schon, es käme so eine aufdringliche Person von einem Klatschblatt vorbei und will uns mit Fragen löchern. Es freut mich, dass du es bist.“
Die beiden umarmten sich. Dann bot ihr Caro einen Stuhl an.
„Das ist mein Kollege, Kevin Reichel“, stellte sie den jungen Mann vor, der die Szene interessiert beobachtet hatte.
„Hallo“, sagte er und hob lässig die Hand zum Gruß.
„Hallo“, antwortete Verena und setzte sich.
„Also, dann schieß mal los. Was willst du wissen?“
„Wisst ihr schon, wer den Mord begangen hat? Und warum? Wann war der genaue Todeszeitpunkt? Welche Erkenntnisse habt ihr schon?“
„Bisher haben wir noch nicht allzu viel, eigentlich fast gar nichts. Was wir definitiv wissen ist, dass der Fundort auch der Tatort ist und dass er mit einem einzigen Stich ins Herz getötet wurde, der sofort zum Tod geführt hat.“
Verena machte sich eifrig Notizen.
„Wann wurde die Tat verübt?“
„Laut der Pathologie geschah der Mord zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens. Das ist aber auch schon alles. Mehr kann ich dir nicht sagen.“
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