Um die Mittagszeit schlich er sich förmlich in die Gaststube hinunter und setzte sich an einen der kleinen Tische mit Fensternischen. Am Tresen fanden sich mehrere Männer, die ihr Bier vor sich stehen hatten und miteinander über das anstehende Dorffest sprachen, bis dann der Mechaniker eintrat. Die ohnehin schon beinahe übermächtige Beklemmung in Maron nahm schlagartig zu. Alle wirkten ein wenig absonderlich. Die Kleidung von der Arbeit verdreckt, was aber niemanden zu stören schien. Der Geruch von abgestandener Luft, geschwängert mit kaltem Rauch als auch zu dieser eigentlich frühen Stunde schon nach Alkohol riechenden Umgebung, machten das Aushalten unter den heimischen Männern sehr schwer.
Verstohlen saß er in seiner Ecke und stocherte lustlos in dem Teller derben Eintopfes herum. Er schmeckte nicht und angewidert schob er den Teller endgültig beiseite, als er die Gesprächsfetzen aufschnappte. Man witzelte über die Alte an der Küste. Einer der Herren rief zu ihm herüber, dass es schon erstaunlich sei, dass er die Nacht dort draußen überhaupt überlebt hatte. Maron wusste nichts zu entgegnen und verließ das Gasthaus eiligen Schrittes.
Draußen an der frischen Luft verharrte er einen Moment und atmete tief ein. Langsam ging er los und dachte darüber nach, was diese Menschen hier wohl an der alten Dame auszusetzen haben mochten? Alles, was er bisher mitbekommen hatte, war dummes Geschwätz von Leuten, die wohl außer ihren Kuhställen und Äckern nichts mit sich und ihrer Zeit anzufangen wussten, als über das zu lästern, was offensichtlich außerhalb ihres Horizontes zu liegen schien! Zweifelsohne prallten hier zwei Welten aufeinander – allein, was die Atmosphäre als auch das Wesen, die Ausstrahlung betraf …
Es machte ihn zunehmend wütend, ohne dass er eigentlich erklären konnte, warum und wo dieses Gefühl mit einer solchen Intensität hergekommen war. Womöglich lag es ganz einfach daran, dass er im alten Leuchtturm so etwas wie Geborgenheit verspürt hatte? Wohlig und warm hatte es sein Innerstes berührt und schon jetzt musste er feststellen, dass es ihn zweifelsohne wieder zu Landana und Celia zu ziehen begann. Er bekam Sehnsucht nach der Nähe der beiden Damen und das alles verwirrte ihn.
Der Gang an der frischen Luft machte es wenigstens ein bisschen besser. Er hatte das Dorf längst hinter sich gelassen und wand sich nun den Wiesen und Weiden zu, die sich bis zur Küste hin, die noch in einiger Entfernung vor ihm lag, erstreckten. Was hatte er bisher für ein Leben geführt?
Er war ein Mann, Mitte dreißig und noch immer alleinstehend. Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte er seine Mutter verloren. Da er seinen Vater nicht kannte, hatte er seine Jugend in einem Heim verbracht. Das wenige, was er dort an Nähe bekommen konnte, war nicht ausreichend und ließ ihn zum Einzelgänger werden, der lieber seine Nase in Büchern vergrub, als sich mit anderen Menschen zu beschäftigen. Er traute niemandem – jedenfalls nicht wirklich. Weil er sein Studium nicht finanzieren konnte, war er schließlich eines Tages resignierend als Staubsaugervertreter bei einer Firma im Außendienst gelandet, ganz einfach weil er gut reden konnte, zumindest war es meistens so. Auch wenn er sich selbst stets vorkam, als trage er unentwegt eine Maske vor seinem Gesicht. In seiner freien Zeit war er eben aus dem Grund lieber allein, träumte vor sich hin und beschäftigte sich viel mit dem Altertum. Die Menschen mit ihrem Konsumdrang und den ständigen Einflüssen jeglicher Art von Ablenkung nervten ihn. Er hatte keine Freunde und doch wusste er tief in sich eine Sehnsucht atmen, die nach Wärme dürstete. Womöglich lag es an der Oberflächlichkeit seines beruflichen Alltages, weshalb es ihn während seines Urlaubs auch immer hinaus aufs Land gezogen hatte - in der Hoffnung, so seine Ruhe finden zu können vor dem, was ihn regelmäßig die Flucht ergreifen ließ!
Ein unerwartetes Wiedersehen
Inzwischen hatte er die Küstenstraße erreicht. Maron trat dicht an die Absperrung heran und sah tief unter sich den schmalen Strand. Eine steile Treppe führte hinunter, nur wenige Meter von ihm entfernt. Noch feucht glänzend lagen die roh in den Fels geschlagenen Stufen im Sonnenlicht da. Kurz entschlossen betrat er den Abstieg, war froh über die sichere Sohle seines Schuhwerkes und schritt vorsichtig hinab. Das Geländer schien ebenso verfallen zu sein wie die Begrenzung der Straße oben, aber etwas drängte ihn trotzdem dazu, hinunterzugehen und auf das Meer zu schauen.
Endlich erreichte er den groben Sand, der durchzogen war von vielen Steinen und Muscheln. Seinen Mantel darauf ausbreitend setze er sich schließlich hin und genoss die Sicht auf die Weite des Ozeans. Eine leichte Brise wehte, tauchte ihn ein in etwas, das ihn die vergangenen Stunden in der kleinen Ortschaft distanziert betrachten ließ, ihm innerliche Freiheit als auch Friedfertigkeit schenken konnte, weil er sich an das Haus an der Steilküste mit seiner lieblichen Bewohnerin erinnerte – voller seelisch nicht wirklich zu greifender Wärme. Geborgenheit – das war es, was er dort empfunden hatte. Wie, als wolle er diesen Gedanken unterstreichen, nickte er zustimmend vor sich hin. In diesem Moment, als er in die Ferne schaute, entrückt war, von allem, was ihn an unerwartet auf ihn einstürzenden Emotionen belastet hatte - die Menschen dieses so eigenwillig scheinenden Landstriches, die gering schätzenden Blicke der Leute dort als auch ihr abwertendes Gerede - ging es ihm wieder gut … so, als könne er endlich wieder frei atmen. Fort von da, wo er sich fühlte wie ein Eindringling und beinahe schon dazu verdammt war, noch länger verharren zu müssen – ohne es zu wollen! In ihm der Gedanke aufkam, ob es wohl mit Landana zu tun haben mochte … Wäre es ihm ebenso in dem Dorf ergangen, wenn er nicht zuvor bei ihr Unterschlupf gefunden hätte? Wie eine eingeschworene Gemeinschaft schienen sie zu sein – alle gegen das eine, das so besonders war und er trotz der Kürze der Dauer nicht mehr missen wollen würde!
Sanft drang ein Geräusch an seine Ohren und verwundert sah er zur Seite. Ein kleines Stück von ihm entfernt erkannte er Landana, die langsam auf ihn zukam. Ein freudiges Lächeln lag im selben Moment auf seinem Gesicht, ob dieses unerwarteten Wiedersehens!
„Herr Maron? Sie sind ja noch hier?“ fragte sie ihn erstaunt ansehend.
„Ja, mein Wagen wird erst in 2 Tagen fertig sein.“
„Ach – das ist aber schlecht, oder? Wo bleiben Sie denn solange?“ Sie war inzwischen dicht neben ihn getreten und er hatte sich erhoben, um nun mit ihr sprechen zu können. Sie war wesentlich kleiner als er, aber man saß nicht auf dem Boden rum, wenn ein so außergewöhnlicher Mensch mit einem sprach, fand Maron.
„Ich habe mir ein Zimmer gemietet“, sagte er dann und sah verlegen zur Seite. Die alte Dame schaute ihn lächelnd an.
„Ob es da so schön ist?“ fragte sie schließlich.
„Nein“, sagte er, „es ist grauenvoll!“
„Das habe ich mir gedacht. Gehen wir ein Stück?“ fragte sie unvermittelt. Nickend stimmte er zu und sie schlenderten nebeneinander den Strand entlang. Maron konnte kaum erklären, was vor sich ging. In seinem Innern hatte es wohlig zu leuchten begonnen, als er die alte Dame erkannt hatte. Welch ein Zufall, dachte er bei sich, als er sie mit einem leichten Blick streifte. Da hatte er sich nach ihr gesehnt, ohne erklären zu können, warum eigentlich und nur kurz danach, war er ihr erneut begegnet ... Sie hatte etwas mütterlich Wärmendes an sich, vielleicht war das der Grund?
„Erzählen Sie mir von sich, Herr Maron“, sprach sie nun.
„Hm, da gibt es nicht viel, das sich lohnen würde. Aber bitte nennen Sie mich doch Ernest.“
„Na gut, Ernest. Haben Sie Familie?“
„Nein, leider nicht, aber ich bin es auch nicht anders gewöhnt ...“
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