Plötzliche Angst überfiel sie mit einer solchen Wucht, dass sie den Kontakt zur Gegenwart verlor. Eine undurchdringliche Wand umschloss ihren Geist, kapselte sie von der Wirklichkeit ab, umklammerte sie, nahm ihr den Atem und versuchte, jegliche Gegenwehr im Keime zu ersticken.
Nein! schrie es in ihr. Nein! Das ETWAS im See wird nicht gewinnen!
Sie wehrte sich, setzte der Panik ihren starken Willen entgegen und ... war plötzlich wieder sie selbst.
„Wir müssen zu dem Durchgang dort drüben“, flüsterte sie Danina zu. „Ich gehe zuerst. Sobald ich drüben angekommen bin, folgst du mir mit Mawi nach. Hast du verstanden?“ Die Antwort der Pantherin war ein aufmunternder Schubs.
Samiras setzte einen Fuß auf die glitschigen Brückenbohlen und wartete mit angehaltenem Atem. Doch nichts geschah. Mit dem Dolch in der Hand ging sie weiter. In der Mitte der Brücke blieb sie stehen. „Es ist nichts im Wasser“, murmelte sie. „Meine Einbildung hat mich genarrt. Es ist einfach nur ein See.“ Sie drehte sich zu Danina um, die sie vom Ufer aus beobachtete und rief: „Es ist alles in Ordnung. Du kannst ...“
Sie verstummte vor Schreck, als die Pantherin fauchend auf die Brücke sprang. „Gefahr!“ schrillte es in Samiras´ Kopf. Doch sie konnte nichts Bedrohliches entdecken. Nur die Oberfläche des Sees bewegte sich spiralförmig von der Mitte aus auf sie zu.
Aber irgendetwas hatte Danina in Alarmbereitschaft versetzt! Und in diesem Moment jaulte die Pantherin auf, so durchdringend schrill, dass Samiras vor Schreck fast ins Wasser gestürzt wäre.
Und dann überstürzten sich die Ereignisse!
Inmitten einer gewaltigen Fontäne schoss die Grauen erregende Kreatur aus der Mitte des Sees empor und warf sich schrill kreischend herum. Aus rot glühenden Augen starrte sie Samiras mordlüstern an. Mit Saugnäpfen und Dornen bestückte Fangarme peitschten durchs Wasser, berührten die Brücke, krochen wendig und schnell auf Danina zu.
Doch Samiras erkannte die Gefahr und eilte ihr zu Hilfe. Wie wild stach sie mit dem Dolch auf die widerlich glitschigen Gliedmaßen ein. Zwei trennte sie ab. Da kreischte die Bestie schrill auf vor Schmerz, doch sie gab nicht auf. Rasend vor Wut warf sie sich gegen die Brücke.
Samiras strauchelte, rutschte auf den schmierigen Bohlen aus und ... stürzte kopfüber ins Wasser. Schleimige Tentakel griffen nach ihr, wanden sich um ihren schlanken Leib und zogen sie auf das gierig aufgerissene Maul zu.
Eingeengt wie in einem Kokon wehrte sie sich. Solange sie noch eine Hand frei hatte, würde sie nicht aufgeben. Niemals! Verzweifelt hackte sie mit dem Dolch auf die Fangarme ein. Zwecklos! Sie kam nicht frei. Geifernd zog das Ungeheuer sie unaufhaltsam zu sich heran. Noch mehr glitschige Tentakel umschlangen sie und pressten ihr die Luft aus den Lungen. Scharfe Dornen rissen ihren Handrücken auf. Die Bestie schmeckte das herausfließende Blut und verlor vor Gier fast den Verstand.
Samiras spürte ihre Kräfte schwinden. Sie drohte zu ertrinken. Schon befand sie sich dicht vor dem Gesicht des zum Monster mutierten Riesenkraken. Verzweifelt riss sie sich ein letztes Mal zusammen, hob den Dolch und stieß ihn in eines der dicht vor ihr glühenden Feueraugen, zog ihn wieder heraus und stieß ein zweites Mal zu. Und dann verließ sie endgültig alle Kraft. Den Dolch krampfhaft umklammernd, brach sie ohnmächtig zusammen und versank im jetzt tintenschwarzen Wasser.
Danina hatte ihrer Gefährtin nicht zu Hilfe eilen können. Sie kämpfte auf der Brücke wild um sich beißend gegen die unzähligen Tentakel, die sie nicht zur Ruhe kommen ließen und ihr jede Chance nahmen ihre Fähigkeiten einzusetzen. Verbissen setzte sie sich gegen die glitschigen Fangarme zur Wehr, doch immer wieder kamen neue hinzu. Es schien aussichtslos.
Doch plötzlich glitten die Fangarme kraftlos von der Brücke, und der Krake verschwand unter ohrenbetäubendem Gebrüll im See. Danina sah gerade noch das kupferfarbene Haar ihrer Gefährtin unter der Wasseroberfläche verschwinden, dann war alles vorbei.
Was nun?!
Ihre angeborene Scheu vor dem Wasser überwindend sprang sie mit einem Riesensatz hinein und paddelte hastig zur Mitte des Sees. Sie tauchte und suchte in der Schwärze. Da! Samiras´ Körper bewegte sich genau unter ihr. Danina packte zu, schnellte sich nach oben zum Licht, durchstieß kraftvoll die Wasseroberfläche und schwamm zur Brücke. Ihre Gefährtin mit sich ziehend stemmte sie sich hoch und rannte mit dem leichten Körper im Maul ans Ufer.
Mawi kam ihr aufgeregt entgegen, doch Danina scheuchte ihn fauchend beiseite. Sie legte ihre Last ab, drückte ihre Pranken auf Samiras´ Brust und drückte und pumpte, bis diese das brackige Wasser würgend erbrach und ruhig weiteratmete
Samiras lebte. Beruhigt legte Danina sanft ihre Pranke auf die Verletzung. Als sie sie wieder hochnahm, hatte sich die Wunde geschlossen. Sie schmiegte sich dicht an ihre Gefährtin, um sie zu wärmen, denn die Nacht würde kühl werden.
„ Xzatra kann mit mir zufrieden sein, dachte die Pantherin stolz. Bisher habe ich meine Aufgabe gut erfüllt. Allerdings waren die bisherigen Ereignisse ja auch nur das Vorgeplänkel in einem sehr gefährlichen Spiel.“
Mawi kam schüchtern näher und sah Danina bittend an. Die Pantherin schloss schnurrend die Augen. Da huschte das Mauswiesel zu Samiras, kuschelte sich an sie und schlief ein.
„Was ist passiert?“, flüsterte Samiras und schlug die Augen auf. „Wie bin ich hierhergekommen?“ Und dann fiel ihr alles wieder ein. „Der Krake! Er hat mich verletzt!“ Sie hob den Arm und musterte ihre Hand. Keine Verletzung, nur eine schmale Narbe war zu sehen. Wie war das möglich? Sie konnte sich noch sehr gut an den Schmerz erinnern, als die scharfen Dornen des Kraken ihre Haut aufschlitzten.
„ Wann wirst du endlich begreifen?“, wisperte Daninas Stimme hinter ihrer Stirn.
Mit einem Ruck fuhr Samiras hoch.
„ Ich hoffte, du würdest es von selbst erkennen, damals, als du die goldene Phiole vergessen hast.“
Samiras erinnerte sich noch deutlich an die Aufforderung in den goldenen Augen. Doch Aufforderung wozu? hatte sie gedacht. Jetzt wusste sie es. Sie konnte sich ohne Hilfe der Sprache mit ihrer Gefährtin verständigen. Telepathie, nannte man so etwas. Ashra hatte es ihr vorhergesagt.
„ Du musst wirklich mehr an dir arbeiten und deine Fähigkeiten erkennen, damit du deine Aufgabe meistern kannst.“
„Das werde ich“, versprach Samiras. „Wirst du mir dabei helfen?“
„ Dazu bin ich hier“, erwiderte die Pantherin schlicht.
„Wir müssen es noch einmal versuchen. Es ist die einzige Möglichkeit auf die andere Seite des Sees zu gelangen.“
Danina nickte. Mit einem kraftvollen Satz sprang sie auf die Brücke und bohrte ihre scharfen Krallen in das Holz. Argwöhnisch starrte sie zur Mitte des Sees. Aber entweder war das Untier tot oder schwer verletzt, jedenfalls schien es kein Interesse an einem neuerlichen Kampf zu haben. Unbehelligt erreichten sie die andere Seite und gingen zu dem Durchgang, der weit in den Felsen hineinzuführen schien.
Wieder half ihnen ein Leuchtkiesel, denn in dem Stollen konnte man nicht die Hand vor Augen sehen. Sie kamen nur langsam voran. Der Boden war uneben und feucht, und an den rauen Felswänden liefen schmale Rinnsale herunter die sich in Vertiefungen fingen, überliefen, auf den Boden plätscherten und jeden Schritt zur Gefahr werden ließen. Außerdem waren die Wände so niedrig, dass Samiras den Kopf einziehen musste, um nicht gegen die felsige Decke zu stoßen.
Bis auf das plätschernde Geräusch des Wassers war es totenstill in dem Gang. Wie in einer Gruft, dachte Samiras unbehaglich. Sie bewegte sich vorsichtig und so geräuschlos wie möglich, was ihr nicht immer gelang. Einmal rutschte sie auf dem glitschigen Boden aus und wäre fast auf Danina gefallen. Aber sie fing sich im letzten Augenblick wieder und vermied den drohenden Sturz.
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