Diese hatte sich zwar wieder aufgerappelt, aber der harte Aufprall auf dem felsigen Boden hatte sie mitgenommen. Ihre Bewegungen waren längst nicht mehr so sicher und ihre Abwehr so schwach, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie unterlag. Bisher hatte sie außer Abschürfungen und kleineren Verletzungen nicht viel abbekommen, doch das konnte sich sehr schnell ändern. Wir müssen hier weg, dachte auch sie. Aber wie?
Da war Danina mit zwei Sätzen neben ihr, und Samiras schwang sich so selbstverständlich auf den muskulösen Rücken, als hätte sie es schon tausend Mal getan. Ihre Hände umklammerten den sehnigen Hals, und die Pantherin jagte mit ihrer Last wie ein Schemen an den vor ihr zurückweichenden Höllenkreaturen vorüber. Samiras stöhnte unter einem neuerlichen Ansturm der grauenhaften Stimmen. Halb bewusstlos vor Qual lag sie auf Daninas Rücken. Sie schloss die Augen und setzte den Rest ihres Willens dafür ein, nicht herunterzufallen.
Mit weiten Sprüngen jagte die Pantherin aus der Gefahrenzone heraus, und je weiter sie sich entfernten, desto schwächer wurden die Stimmen hinter Samiras´ Stirn, bis sie endlich gänzlich verstummten.
Ohne ihr Tempo zu verringern, lief Danina noch etwa eine Meile, bis sie zwischen einer Anzahl bizarr geformter Felsen stehen blieb. Samiras stieg von ihrem Rücken und wankte zu einem Felsen hinüber. Sie lehnte sich dagegen, aber ihre Beine zitterten so stark, dass sie sich lieber hinsetzte. Sie blickte Danina an, die unverletzt, mit dem Lederbeutel im Maul, ihren Blick erwiderte.
Der Lederbeutel! Die Pantherin hatte ihn die ganze Zeit lang getragen, wohl wissend, dass er für sie lebenswichtig war. Und sie? Sie hatte ihn glatt vergessen!
Sie senkte beschämt den Kopf und musterte ihre verschrammten Hände. Doch da waren keine Schrammen! Keine Verletzungen! Aber sie hatte den Schnitt gespürt und war trotzdem unverletzt. Wie konnte das sein? Natürlich! Und endlich begriff sie, dass sie der „ Straße der Zukunft“ entkommen war. Nur sie, denn Danina war gegen diese Art von Magie gefeit. Deshalb hatte sie auch nichts von ihrer Not spüren können.
Danina kam näher und ließ den Lederbeutel vor ihre Füße fallen. Ich bin hungrig hieß das und das war sie nicht allein, denn in der verschlossenen Umhangtasche meldete sich nun auch Mawi.
Samiras stillte den Hunger ihrer beiden Gefährten und nahm für sich selbst nur einen Apfel. Doch als sie hinein beißen wollte, erwachte die Frucht zu plötzlichem Leben.
„Iiigitt!“, kreischte sie beim Anblick der Maden und ließ den Apfel fallen. Ein besonders fettes Exemplar erklomm unternehmungslustig ihre Hand, glitschte über ihren Zeigefinger und fiel ihr in den Schoß. Samiras sprang erschrocken auf und ... die Maden waren verschwunden. Rund und appetitlich lag die Frucht vor ihr auf dem Boden. Ein neuerliches Trugbild hatte sie genarrt und sie erkannte, dass allein der „ Stein der Wahrheit“ sie vor Sinnestäuschungen würde bewahren können. Doch wo sollte sie nach ihm suchen? Vielleicht hier? Hatte Danina sie deshalb hierher gebracht?
Nachdenklich glitt ihr Blick über die Felsen vor sich. Und plötzlich fiel ihr etwas auf. Sie stand auf und trat an die Felswand heran.
Mit dem Finger zeichnete sie eine etwas hervorstehende Form nach, die mit ein wenig Fantasie einem Schlangenkopf mit einer Krone glich. Und plötzlich, sie berührte die mittlere Spitze der Krone, glitt ein Teil des Felsens lautlos zur Seite und gab eine dunkle Öffnung frei. Samiras versuchte in der samtenen Schwärze etwas zu erkennen. Hatte sie wirklich den Zugang zum „ Stein der Wahrheit“ entdeckt? Zögernd trat sie näher.
UND ETWAS GESCHAH!
Die Schwärze des Durchgangs veränderte sich. Flimmerndes Silber fing ihren Blick ein, hielt ihn fest und lenkte ihn auf eine unvermittelt vor ihr auftauchende, kürbisgroße kristalline Form. Und plötzlich erkannte sie mit sonderbarer Klarheit hinter dem Schwarz eine nach unten führende Steintreppe, einen Gang, schummrige Räume und in einem dieser Räume auf einem Sockel liegend den begehrten Stein.
„Wir müssen ihn holen“, flüsterte sie. Der Nachhall ihrer Worte schwebte noch in der Luft, da verschwand die kristalline Erscheinung und mit ihr die samtene Schwärze. Der Blick auf die nach unten führende Treppe war frei. Vorsichtig stieg sie hinter Danina die jahrtausendealten Steinstufen hinab.
Doch es ging nicht annähernd so tief hinunter wie sie vermutet hatte. Wenig später erreichten sie das Ende der Treppe und blieben stehen. Es war so dunkel, dass man die Hand nicht vor Augen sah.
„Wir brauchen Licht“, flüsterte Samiras. „Eine Fackel wäre nicht schlecht.“
Danina knurrte und sah sie auffordernd an.
„Was ist denn?“ Und dann fiel es ihr ein. Natürlich! Die Leuchtkiesel, die ihr die Zauberin Xzatra mitgegeben hatte. Sie öffnete die silberne Dose und nahm einen heraus. Sofort wurde es hell, sodass sie die schweren Holztüren in den hohen Wänden des langen Ganges erkennen konnte; und hinter einer dieser Türen wartete der „ Stein der Wahrheit“ auf sie. Aber hinter welcher? Entschlossen öffnete sie die erste Tür.
Nichts. Der Raum dahinter war vollkommen leer.
Die zweite Tür. Und wieder nichts. Auch der dritte und vierte Raum waren leer. Doch bei der fünften Tür stieß Samiras auf Widerstand. Nur mit Mühe ließ sie sich einen Spalt breit öffnen. Sie zwängte sich hindurch. Hinter der Tür blieb sie stehen. Es war stockdunkel, und da sie dummerweise den Leuchtkiesel draußen im Gang hatte liegen lassen, musste sie noch einen nehmen.
Es wurde zwar hell, doch lange nicht so hell wie draußen auf dem Gang. Anscheinend absorbierten die Wände einen Teil des Lichts. Doch gab es hier auch nicht viel zu sehen. Sie stand in einem vollkommen leeren Raum, den eine etwa mannshohe Mauer unterteilte, durch die ein kaum türbreiter Durchgang in die andere Hälfte des Raumes führte. Allerdings würde sie dort den Stein nicht finden, denn der Sockel in ihrer Vision war weitaus höher als diese Mauer gewesen.
Also wieder nichts. Und trotzdem konnte sie den Raum nicht verlassen, denn ein schier übermächtiger Drang trieb sie weiter. Sie musste unbedingt wissen, was sich hinter dem Durchgang verbarg. Wie in Trance bewegte sie sich auf die Öffnung zu und ging hindurch.
Eine sachte Bewegung an ihren Beinen riss sie aus ihrem Dämmerzustand. Wo war sie? Und was waren das für schleifende und schabende Geräusche? Sie blickte zu Boden.
Boden?!
Von einem Boden war nichts zu sehen unter den sich windenden, krümmenden und ringelnden Schlangenleibern der unterschiedlichsten Größen, Muster und Farben. Es mussten Hunderte sein!
Samiras schrie entsetzt auf und warf sich herum. Nur weg hier, war ihr erster Gedanke, den die Panik ihr eingab. Doch nach drei Schritten war ihre Flucht bereits zu Ende, denn eine riesige Kobra versperrte ihr den Weg. Samiras blieb stocksteif stehen. Die starren Augen der Königskobra fingen ihren Blick ein und hielten ihn fest.
Und im selben Moment fielen Angst und Anspannung von ihr ab wie ein zu groß geratener Mantel, und ihre Sensibilität verinnerlichte die von Güte und Wärme erfüllte Aura, die sie umgab. Die weiche Stimme der Schlange drängte sich in ihre Gedanken und sie entspannte sich.
„ Seit Anbeginn der Zeit wird der „Stein der Wahrheit“ von uns Schlangen beschützt, damit er nicht in unbefugte Hände fällt. Doch keine Angst, Samiras. Du hast nichts zu befürchten“, wisperte es hinter Samiras´ Stirn.
„Wer bist du? Und woher weißt du wie ich heiße?“, flüsterte Samiras.
„ Ich bin Ashra, mein liebes Kind. Wir Schlangen kennen und lieben dich, denn du gehörst zu unserer Vergangenheit, zu unserer Zukunft und zu den alten Sagen unseres Volkes. Eines Tages, wenn die Zeit gekommen ist, werden wir uns wieder begegnen und du wirst alles erfahren.“
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