Er suchte weiter und passierte eine dichte Nebelwand. Und da war es! Xzatras Schloss! Er näherte sich vorsichtig einem offenen Fenster und äugte misstrauisch hindurch.
Sollte er es wagen? Er musste! Wer weiß, ob sich ihm jemals eine günstigere Möglichkeit bieten würde. Also fasste er sich ein Herz und flog hinein, wobei er ängstlich nach der Zauberin Ausschau hielt. Doch er hatte Glück. Das Zimmer war leer. Mutig geworden sah er sich um.
Zwei kunstvoll bemalte Lackschränke an der Wand weckten sein Interesse. Was da wohl drin war? Vielleicht etwas, das seinen Meister interessieren könnte? Er hätte gerne nachgesehen, doch da ihm sein derzeitiger Gastkörper keine Möglichkeit bot die Schränke zu öffnen und eine neuerliche Umwandlung zu anstrengend gewesen wäre, erlosch sein Interesse wieder. Aber er musste Teufat Informationen bringen, sonst erging es ihm schlecht!
Da vernahm er sich rasch nähernde Schritte auf dem Flur.
„Die Zauberin!“, stöhnte er entsetzt. Sein Blick hetzte durch den spärlich möblierten Raum, suchte verzweifelt nach einem Versteck. Der Paravent! Pfeilgeschwind schoss er darauf zu und verschwand im selben Moment dahinter, in dem sich die Tür öffnete. Der Formwandler hielt den Atem an. Hatte ihn die Zauberin gesehen? Doch auch diesmal war das Glück mit ihm. Xzatra bemerkte ihn nicht.
XZERUS BRINGT DIE GOLDENE PHIOLE
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Samiras und Danina im Schatten einer kargen Felsgruppe Rast machten. Danina lag auf einem von Wind und Wetter glatt polierten Felsplateau und döste, während Mawi wenige Schritte von ihr entfernt hockte und fasziniert ihre zuckende Schwanzspitze beobachtete. Endlich hielt er es nicht mehr aus und haschte danach. Daninas Pranke zuckte vor. Fauchend beäugte sie ihren zitternden Gefangenen und ... schleckte ihn genüsslich ab.
Klitschnass rettete sich das etwa zwanzig Zentimeter lange Kerlchen (zuzüglich buschigem Schwanz) in Samiras´ Hand. Sie nahm ein Tuch und trocknete sein weiches, rötlich braunes Fell. Das gefiel Mawi. Fiepsend streckte er ihr auch noch sein kleines, weißes Bäuchlein entgegen. Samiras lächelte gerührt. Doch ihre Fröhlichkeit währte nicht lange. Nervös strich sie sich die Haare aus der Stirn. Was macht mich nur so kribbelig? fragte sie sich. Sie spürte Daninas Blick und sah sie an. Und plötzlich wusste sie, was mit ihr los war!
Goldene Augen! Die goldene Phiole! Sie hatte sie zu Hause liegen lassen. Und was nun? Wieder zurückgehen und die vergangene Zeit einfach in den Sand setzen? Durfte sie das überhaupt? Eher nicht! „Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren“ , hatte die Zauberin gesagt. Sie musste ohne die Phiole weitergehen.
Danina schlenderte herbei. Mit einem fast menschlich anmutenden Kopfschütteln blieb sie vor ihrer Gefährtin stehen. Sie sah sie an und die deutliche Aufforderung in ihren schrägen Augen war nicht zu übersehen. Doch Aufforderung wozu?
Samiras starrte zurück, und ein seltsames Gefühl, der Hauch einer Ahnung von etwas Verlorenem überkam sie unter dem intensiven Blick der goldenen Augen. Doch bevor sie sich auf diese Empfindung näher einlassen konnte, verschwand sie wieder, und auch die Aufforderung in Daninas Augen erlosch. Die Pantherin trollte sich und verschwand hinter den Felsen.
Mit dem Gefühl, soeben etwas Wichtiges verpasst zu haben, sah ihr Samiras hinterher. Sie strich sich fahrig über ihr schulterlanges, kupferfarbenes Haar und die seltsame Empfindung verschwand, doch ein Gefühl von Traurigkeit blieb. Still und in sich gekehrt hängte sie den Lederbeutel mit ihren Habseligkeiten über die Schulter und folgte Danina, die bereits einen gehörigen Vorsprung hatte.
Am späten Nachmittag begann es zu regnen. Der bislang eher sandige Boden wurde zunehmend steiniger, was darauf hindeutete, dass sie sich dem Krakhet-Gebirge näherten, der Heimat des Zwergenvolkes. Doch zuerst einmal mussten sie Schutz vor dem stärker werdenden Regen finden. Das Blätterdach eines Hains, nicht allzu weit entfernt von ihnen, schien Samiras geeignet. Im Laufschritt eilte sie darauf zu.
Doch die Bäume waren weiter entfernt als vermutet. Als sie sie endlich erreichten, war Samiras zwar nicht völlig durchnässt, denn ihre Kleidung aus besonderem Leder (ebenfalls ein Geschenk Xzatras) hielt nicht nur Waffenhieben stand, sondern auch die schlimmsten Wettereinflüsse ab. Trotzdem fühlte sie sich klamm in ihren Sachen. Als sie dann wenig später auf einen versteckt zwischen den Bäumen liegenden Felsüberhang stieß, sorgte sie zuerst einmal für ein anheimelndes Feuer.
Sie hatten Glück, einen so geschützten Platz gefunden zu haben, denn das Blätterdach war bei näherem Hinsehen lange nicht so dicht wie Samiras es sich gewünscht hätte. Auch hier hatte das Böse bereits seine Spuren an den verkrüppelten Blättern und langsam dahinsiechenden Stämmen hinterlassen. Und es griff immer weiter um sich und veränderte die Natur ebenso wie alles Leben von Tag zu Tag mehr. Samiras war in der Umgebung ihres kleinen Bauernhauses, in der sie mit Danina gelebt hatte, immer öfter auf die Auswirkungen des Bösen gestoßen, ohne es sich erklären zu können. Erst durch die Zauberin war ihr das Wie und Warum klar geworden.
Und natürlich trugen wie stets die Menschen die Hauptschuld an dem, was erneut geschah und noch geschehen konnte. Anscheinend lernten sie nie dazu. Und bei diesem Gedanken verfärbte sich ihre bräunliche Haut und nahm einen sanft schimmernden Grünton an, ein untrügliches Zeichen ihrer inneren Anspannung.
Daninas massive Aufforderung sich endlich um etwas Essbares zu kümmern, riss Samiras aus ihren trüben Gedanken. Als sie den magischen Vorratsbeutel und die Wasserflasche aus ihrem Beutel nahm, hatte sie sich beruhigt und ihre Haut wieder ihre normale Tönung angenommen.
Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, legte Danina ihren Kopf in Samiras´ Schoß und ließ sich das dichte, seidige Fell streicheln, dem kein Unwetter etwas anhaben konnte. Aber schließlich war Danina ja auch keine gewöhnliche Pantherin.
„ Sie verfügt über besondere Fähigkeiten und ist unsterblich, solange sie ihre Unsterblichkeit will“, hatte die Zauberin gesagt. Doch welche Fähigkeiten das waren, hatte ihr Xzatra nicht verraten wollen. „ Das wirst du schon früh genug selber erfahren“, war ihre lapidare Antwort gewesen.
Und Mawi? dachte Samiras. Ist er auch etwas Besonderes? Vermutlich, denn dass sie zufällig auf das Mauswiesel gestoßen war, hatte sie nicht eine Sekunde lang geglaubt, eher, dass die Zauberin ihr einen weiteren Gefährten geschickt hatte.
Sie lächelte, als sie ihn nicht weit entfernt unter den Büschen herumstöbern sah. Sicherlich nimmt auch dieses kleine Kerlchen einen wichtigen Platz im Plan derer ein, die uns aussandten, dachte sie und hoffte aus tiefstem Herzen, dass er ihr gemeinsames Abenteuer gesund überstehen würde.
Oh ja, ihre Verantwortung wuchs mit jedem Gefährten, der sich ihr anschloss, aber letztendlich war ja selbst die Zauberin auch nur eine Figur im Schachspiel derer, die sich „DER RAT DER WEISEN“ nannten. Keiner kannte ihre Namen. Niemand hatte sie jemals wirklich gesehen. Stets verhüllten wallende Gewänder ihre Körper, während silberne Masken und tief in die Stirn gezogene Kapuzen ihre Gesichter verbargen.
Seit dem letzten großen Krieg, der die Erde und die Menschheit fast ausgelöscht hätte, lenkten sie mit Umsicht und Weitblick die Geschicke der alten und der neu entstandenen Bevölkerung und sorgten dafür, dass sich Menschen und Zwerge, Elfen und Trolle und all die anderen Lebewesen respektierten und nichts zuleide taten.
Eine lange Zeit des Friedens und der Eintracht hatte dafür gesorgt, dass sich die Erde regenerierte und neues, wenn auch anderes, Leben hervorbrachte. Alles war so gut gelaufen. Doch dann hatte sich irgendwann heimlich still und leise erneut das Böse in die Herzen einiger Erdbewohner geschlichen und diese dazu gebracht, an vergangene, schreckliche Zeiten anzuknüpfen.
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