„ Wer seid Ihr?“, fragt sie.
„Schließe deine Augen. Konzentriere dich. Durchdringe die Nebel und du wirst wissen, wer ich bin.“
Sie schließt die Augen. Fächerförmige Schatten bilden sich unter ihren dichten, langen Wimpern, setzen sich hinter den geschlossenen Lidern fort, verdichten sich zu geballter Schwärze, einer Finsternis, die sich hemmend vor den Bereich ihrer Erinnerungen legt. Doch sie gibt nicht auf, schlägt konzentriert auf die Schwärze ein, durchdringt das Dunkel und gelangt an eine Grenze diffusen Lichts, hinter dem ein schleierförmiges Gespinst etwas verbirgt. Sie fegt es beiseite.
Eine Brücke! Und in der Mitte der Brücke!
Sie schlägt die Augen auf. „Xzatra“, sagt sie. „Ihr seid die Zauberin Xzatra. Meine Ziehmutter.“
„ Deine Bestimmung wartet in der Zukunft auf dich. In deiner Hand wird das Schicksal Vieler liegen“, hatte sie vor langer Zeit gesagt, damals, auf der Brücke zu ihrem Schloss. Aber da war noch jemand bei ihr gewesen, erinnert sie sich. Aber wer? Es fällt ihr nicht ein. Nur diese grenzenlose Traurigkeit ist plötzlich wieder da und ein Gefühl des Verlustes, von dem sie nicht weiß, was es bedeutet.
„ Weshalb versteckt der Magier den Zaubersamen?“
„ Er versteckt ihn, weil die Neuerstehung des Perlmuttbaumes einer Welt, die er hasst und zutiefst verabscheut, den Weg bahnen würde. Er versucht dem Bösen den Weg zu ebnen und muss daran gehindert werden, denn seine Bosheit und Schlechtigkeit hat in der Vergangenheit schon einmal großes Unheil angerichtet und unschuldiges Leben gekostet. Das darf nicht noch einmal geschehen.“
Dann hatte Xzatra sie und Danina auf die Suche nach dem Zaubersamen geschickt und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, wie sie diese Aufgabe jemals bewältigen sollte. Zwar würden sie und ihre künftigen Gefährten, die ihr Xzatra versprochen hatte, nicht unter Hunger oder Durst zu leiden haben, dafür würden der magische Vorratsbeutel und die ebenfalls magische Wasserflasche sorgen, die sich auf ihren Wunsch hin immer wieder auffüllten.
Doch wie sollte sie in den unzähligen Räumen, Gängen und Verliesen der Burg den Zaubersamen finden? Er konnte überall versteckt sein; und falls Teufat sie entdeckte, würde er sich nicht lange mit ihr aufhalten, sondern sie wie eine lästige Fliege zerquetschen, denn was hatte sie schon den Kräften eines Magiers entgegenzusetzen?
Und doch war sie trotz all dieser Bedenken vor vier Tagen aufgebrochen. Zusammen mit Danina hatte sie sich auf den Weg nach Norden zum Krakhet-Gebirge gemacht, wo sie Hetzel zu finden hoffte, den Anführer der Zwerge, den sie auf Geheiß der Zauberin für ihr Vorhaben gewinnen musste.
Und danach galt es den Elfenkönig Ephlor von ihrer Mission zu überzeugen, obwohl selbst Xzatra ihr nicht hatte sagen können, wie sie das Elfenvolk in dem zerklüfteten und unwegsamen Aphrat-Gebirge, welches sich im Osten über weite Teile des Landes erstreckte, überhaupt jemals finden sollte.
„ Das Schicksal wird dich geleiten“, war die orakelhafte Antwort gewesen, bevor der gleißende Lichterbogen erloschen und die Zauberin mit ihm verschwunden war. Tags darauf hatte sie dann das schmale, rote Büchlein gefunden; und der Vers darin hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingegraben:
Ungebetener Fremdling gib Acht!
Auf der „Straße der Zukunft“ das Verhängnis lacht.
Mord und Totschlag, Unheil und Gräueltaten,
Hier wohnen und gierig auf dich warten.
Deine Fantasie narrt dich, treibt dich voran.
Keine Umkehr, der Weg ist versperrt, bietet sich an.
Spukgestalten, unbesiegbar, verfolgen dich.
Sie greifen dich an.
Einer schwingt ein Beil, ein andrer ein Schwert,
Ein Dritter die Keule.
Dein Leben ist keinen Heller mehr wert.
Du kannst nicht entfliehen;
Deinem Schicksal nicht entrinnen.
Hier lauert der Tod, und er wird gewinnen.
Da! Ein Lichtblick, ein Hoffnungsschimmer.
Eine Fata Morgana. Ein Traum.
Bist du vielleicht doch ein Gewinner?
Der „Stein der Wahrheit“ schwebt
über dir in der Luft.
Du vermeinst Rosen zu sehen,
Zu riechen ihren köstlichen Duft.
Er zeigt sich nicht jedem.
Aber nur mit ihm vermagst du zu gewinnen.
Nur mit ihm gelingt es,
Einem schrecklichen Schicksal zu entrinnen.
Dem Schicksal, für immer und ewig an diesem Ort,
hier zu verbleiben.
Für den Rest der Zeit,
Wird dich das Heer der Spukgestalten einverleiben.
Suche ihn!
Finde ihn!
Bezwinge deine Fantasie.
Verscheuche die Spukgestalten, bekämpfe sie.
Lass sie hinter dir zurück. Eile weiter.
Suche den Stein, denn er ist dein Wegbereiter.
Er wird dir helfen, dich führen,
Dir die Zukunft beschreiben.
Er wird dir verraten, ob du wirst müssen leiden.
Er wird dein Leben verändern,
wird dich unterstützen.
Doch findest du ihn nicht,
Wird dir die Fata Morgana nichts nützen.
Du wirst leiden auf immer, und du wirst beten:
Ach, lieber Gott, hätte ich die „Straße der Zukunft“
Doch niemals betreten.
Du bist gewarnt.
Entscheide dich für oder gegen das Glück.
Doch ich rate dir gut:
Kehre besser wieder zurück.
„Der Stein der Wahrheit “, murmelte Samiras. „Ich hoffe nur, er hat etwas Gutes zu bedeuten.“
Nachdenklich ging sie weiter und wäre fast über Danina gefallen, die plötzlich stehen geblieben war. Versunken in ihre Gedanken hatte sie nicht bemerkt, dass sie für heute ihr Ziel erreicht hatten. Unter einer mächtigen alten Eiche schlugen sie ihr Lager auf.
Gewaltige Sandmassen vor sich her peitschend, jagte der Sturm unter infernalischem Getöse über die Todeswüste. Ein dem dröhnenden Donnerschlag vorausgegangener Blitz durchdrang sekundenlang die Dunkelheit und tauchte die bizarren Türme und Erker der Burg, dem einzigen Bauwerk weit und breit, in fahles Licht. Gespenstische Schatten huschten über Winkel und Ecken. Klägliches Wimmern verlor sich im Tosen der Nacht.
Blitz und Donner störte reges Leben in spinnwebenverhangenen Winkeln, pflanzte sich durch Spalten und Hohlräume fort, drang in die tief unter der Erde liegenden modrigen Gewölbe und weckte das hier hausende Böse, welches spinnenhaft geduldig auf seine Chance lauerte.
Angsterfüllte Schreie durchdrangen die einsamen Gänge, hingen vibrierend in der stickigen Luft und endeten wie abgeschnitten vor einer massiven Tür, unter der ein schmaler Streifen schimmernden Lichtes hervordrang.
„Widerliches Gejammer“, knurrte Teufat und zog die Injektionsnadel aus dem Arm des bewusstlosen Zwergs, der auf einer Bahre lag. „Xzatra bespitzelt mich. Ich spürte ihre Magie. Falls sie etwas plant, will ich wissen, was es ist. Hast du mich verstanden, Lestopoktus?“ Er drehte sich zu seinem Diener um, der regungslos in einer Ecke lag.
„Ja, Herr“, murmelte dieser und kroch unter dem kalten Blick der schlammfarbenen Augen noch mehr in sich zusammen. Teufat war zornig und dann war nicht mit ihm zu spaßen, das wusste Lestopoktus aus leidvoller Erfahrung nur allzu gut. Ängstlich beobachtete er seinen hochgewachsenen Herrn der an einem hohen Becken lehnte, dessen Glaswände das schmale, totenbleiche Gesicht mit dem kohlrabenschwarzen Bart unter der scharf geschnittenen Adlernase widerspiegelten.
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