Doch der Magier war in Gedanken versunken und beachtete ihn nicht. Trotzdem wagte sich Lestopoktus nicht zu rühren. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht. Doch das konnte er trotz seiner beachtlichen Fähigkeiten leider nicht.
Eine halbe Ewigkeit später straffte sich Teufats hagere Gestalt unter den dunklen, mit magischen Zeichen bestickten Gewändern. Er bückte sich und holte aus einem Käfig eine ängstlich quiekende Maus hervor, die er am Schwanz haltend vor Lestopoktus hin und her schwenkte. „Na, eine kleine Zwischenmahlzeit gefällig?“, fragte er grinsend.
Lestopoktus vergaß seine Angst und rückte gierig schmatzend näher. Die Maus keine Sekunde aus den Augen lassend verlagerte er sein Gewicht auf die Hinterbeine und hob den Kopf. Plötzlich schnellte seine klebrige Zunge so schnell und unausweichlich wie eine Peitsche zwischen den wulstigen Lippen hervor und riss seinem grinsenden Meister das verzweifelt strampelnde Tier aus der Hand. Er grunzte, schluckte und starrte seinen Herrn bittend an.
„Nichts da. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Finde heraus, was die Zauberin vorhat und eine Belohnung ist dir sicher. Versagst du jedoch ...!“ Er musste nicht weitersprechen, Lestopoktus zuckte auch so vor Entsetzen zusammen. Grinsend tätschelte Teufat den kahlen Schädel der grauenhaft hässlichen Kreatur. „Sei vorsichtig“, warnte er. „Mit Xzatra ist nicht zu spaßen. So, und nun mach dich davon.“
Lestopoktus nickte und hastete so schnell ihn seine kurzen Beine trugen aus dem Raum. Noch immer zitternd schlurfte er zum Ende des langen Ganges und stieg ächzend die ausgetretenen Steinstufen empor, die zu seiner Unterkunft führten. Oben angekommen, trottete er zu einer massiven Eichentür. Schnaufend blieb er davor stehen. Mit ungelenken Fingern suchte er in den Taschen seines kittelartigen Umhangs nach seinem Schlüssel. Endlich hatte er ihn gefunden. Er steckte ihn in das altertümliche Schloss, öffnete die in ihren Scharnieren ächzende Tür und schlurfte mit hängenden Schultern zu einem dicken Stapel weicher Kissen. Seufzend ließ er sich darauf fallen.
Wie er da so zwischen den Kissen thronte, ähnelte er mit seinen kurzen, dicken Gliedmaßen und der warzigen Haut einer aufgedunsenen, besonders hässlichen Kröte. Mit den sechs fingerartigen Auswüchsen der einen Hand kratzte er seinen kahlen, vernarbten Schädel, während er mit der anderen seine wulstigen, gelblich marmorierten Lippen unter der breiten Nase betastete.
Nach einer Weile wälzte er sich stöhnend herum, wobei er sich mit seinem kräftigen, in einer blasenförmigen Verdickung endenden Schwanz abstützte. „Nur befehlen kann er“, murmelte er verbittert.
„Lestopoktus hierhin, Lestopoktus dorthin, hole dies, hole das, töte dies, töte das, langsamer Lestopoktus, Qualle, Widerling, nie ein gutes Wort, nie ein Lob. Aber ich muss ihm gehorchen, muss tun, was er befiehlt, denn er ist grausam und böse. Oh ja, ich bin sein Diener, muss sein Diener bleiben, solange ich lebe.“ Er rutschte von dem Kissenberg herunter und schlurfte zum offenen Fenster, wo er regungslos stehen blieb.
Plötzlich begann sein Körper zu flimmern, löste sich teilweise auf, setzte sich wieder zusammen, seine Konturen zerflossen, vage kristallisierte sich eine neue Form heraus, ein Aufblitzen und ... Lestopoktus verschwand. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, hüpfte eine schwarze Krähe auf den Fenstersims und spreizte die Flügel. Mit einem Schrei schwang sie sich empor und flog davon. In eine Krähe verwandelt gehorchte Lestopoktus wie stets seinem Herrn und Meister, den er mehr fürchtete, als den Tod.
Er war ein FORMWANDLER, ein Wesen, welches die Gestalt anderer Lebensformen anzunehmen vermochte. Diese seltene Gabe machte ihn einerseits außerordentlich nützlich für des Magiers dunkle Pläne und schützte ihn andererseits vor einem plötzlichen Ende. Allerdings bewahrte es ihn nicht vor Teufats grausamer Bestrafung, wenn er versagte.
Und so hatte sich Lestopoktus auf die Suche begeben. Er musste und er würde das Schloss der Zauberin Xzatra finden, denn ihm blieb keine andere Wahl.
Leise Musik perlte süß wie Vogelgezwitscher und zart wie das Rauschen der Blätter im Wind durch den lichtdurchfluteten Saal in dem die Zauberin Xzatra in einem blütenförmigen, aus einer einzigen lilienweißen Schaumperle geformten Sessel saß. Auf ihrer Schulter hatte sich der edle Falke Xzerus niedergelassen, Xzatras treuester Freund und kluger Berater.
„Ich spüre Gefahr und Verrat, Herrin. Etwas Böses naht“, warnte der Falke.
Xzatra runzelte besorgt die Stirn. „Hoffentlich hat Teufat nichts von meinem Besuch bei Samiras bemerkt. Wir müssen sehr vorsichtig sein.“
„Vielleicht solltet Ihr noch einmal das Orakel befragen.“
„Das werde ich, Xzerus, denn ich sorge mich um Samiras. Sie hat die goldene Phiole vergessen, die ich ihr bei meinem Besuch gab. Ohne sie kann sie mich nicht zu Hilfe rufen, sollte sie in Not geraten.“
„Ihr möchtet, dass ich sie ihr bringe?“
„Ja, mein guter Xzerus. Aber beeile dich.“
Der Falke nahm mit dem Schnabel die Phiole aus ihrer Hand, breitete seine Schwingen aus und schwebte davon.
Die Zauberin aber raffte ihren kobaltblauen, mit goldenen Kolibris bestickten Samtumhang und erhob sich. Gestützt auf ihren Zauberstab aus Lapislazuli verließ sie den Raum und folgte dem sich in zahlreichen Windungen schlängelnden Flur. Vor einem von zwei goldenen Falken mit Diamantaugen flankierten Bronzetor blieb sie stehen. Wie von Geisterhand bewegt schwang es nach innen auf und die Zauberin trat in den dahinterliegenden Saal.
Langsam ging sie zu dem auf einem polierten Granitsockel thronenden Orakel, einer ovalen mannshohen Rispe aus feinstem weißen Marmor, gekrönt von einem geschwungenen Auge mit einer hühnereigroßen Pupille aus klarem Aquamarin, die Iris eine walnussgroße schwarze Perle, umrahmt von funkelnden Diamanten. Ihre schlanken Hände glitten sanft über den glatten Stein. Da ertönte eine wundersame Melodie, die das Auge des Orakels erst in intensivem Glanz erstrahlen und dann durchscheinend werden ließ. Gespannt beugte sich die Zauberin vor.
Doch diesmal war ihr das Orakel keine große Hilfe. Sie sah Teufat in seinem Labor regungslos vor einem übermannshohen Spiegel stehen und wie hypnotisiert in das nachtdunkle Glas starren, während das zweite Bild eine schwarze Krähe zeigte, die offenbar in großer Eile einem unbekannten Ziel zustrebte. Mehr zeigte das Orakel nicht. Die Pupille verlor ihre Durchsichtigkeit, wurde wieder aquamarinblau, und die zauberhafte Melodie verklang.
Xzatra setzte sich in einen Sessel, dessen Rückenlehne sich in Form einer Kobra emporschlängelte, und starrte nachdenklich vor sich hin. Der hohe Spiegel in Teufats Labor beunruhigte sie. Doch warum? Es war doch nur ein Spiegel. Nur ein dunkler Spiegel. Dunkel! Das war es! Das dunkle Glas hatte eine Jahrhunderte alte, verschüttete Erinnerung in ihr geweckt. Und diese Erinnerung beunruhigte sie zutiefst!
Währenddessen suchte Lestopoktus in seiner Krähengestalt verzweifelt nach dem Schloss der Zauberin, welches keinen festen Standort hatte, sondern schwebend durch die Wolken glitt. Ihm war nicht nur klar, dass Xzatras Schloss schwer zu finden sein würde, er wusste außerdem, dass ein Schleier undurchdringlicher Magie ein Eindringen unmöglich machte. Und doch gab es eine Möglichkeit hineinzugelangen; sein Meister hatte sie ihm genannt.
Also hoffte er auf das Schloss zu treffen, wenn der Falke unterwegs war. Nur dann, hatte Teufat erklärt, hebt die Zauberin für kurze Zeit den Bannspruch auf, damit Xzerus wieder hineingelangen kann.
Und das ist meine einzige Chance, dachte Lestopoktus, denn falls es mir nicht gelingt, werde ich ein weiteres Mal Teufats Unbarmherzigkeit zu spüren bekommen und ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann.
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