Dienstag, der 20. März. Wir brechen um 8 Uhr auf, sammeln uns in Dersenow und sind kurz vor Mittag nach guter Fahrt auf der großen Berlin-Hamburg-Straße am Elbe-Trave-Kanal bei Lauenburg. Vor uns marschieren in endloser Kolonne polnische Kriegsgefangene nach Westen. Wir müssen warten, bis wir im Anschluss daran die große Elbbrücke passieren können. Die Sonne scheint schon warm, der breite Elbstrom leuchtet graublau. Jenseits der Elbe kann man die ersten Gehöfte und Kirchtürme des Hannoverlandes erkennen. Wir überschreiten zum zweiten Male in 14 Tagen einen großen Strom nach Westen, die zweite Klimagrenze und die zweite Kulturgrenze. Die Höfe und Dörfer um Boizenburg und Lauenburg haben bereits niedersächsischen Charakter. Die sauberen Klinker- und Fachwerkbauten mit ihren Vorgärten und Schriftbalken über den Dielentüren erwecken in mir als gebürtigem Westdeutschen heimatliche Gefühle. Aus diesem alten bäuerlichen Kern- und Stammland sind dereinst vor 600 Jahren die Vorfahren aufgebrochen zur Wiederbesiedlung des von den germanischen Stämmen in der Völkerwanderungszeit geräumten Stammlandes zwischen Elbe und Weichsel. Vor uns blitzt die Elbe auf in der fahlen Märzsonne. Die Kolonne staut sich wieder vor der großen Brücke bei Lauenburg. Hinter Buchenwäldern liegt Friedrichsruh. Dort ruht der letzte große deutsche Staatsmann, Otto von Bismarck. Hat der „Alte im Sachsenwald“ geahnt, dass die Politik seiner Nachfolger Gefahren heraufbeschwört für das vor 600 Jahren begonnene, aber noch nicht vollendete Werk der Grenzsicherung im Osten? Wir müssen über die Elbe. Ich kann unsern Leuten nicht sagen, dass ich durch Abhören des Moskauer Senders Kenntnis habe von den Abmachungen von Jalta, in denen den Russen das Land bis an die Elbe als Besatzungszone zugeteilt wurde. Hier wird mir klar, dass der „große Führer“ durch seinen Angriffskrieg gegen Russland eine Wahnsinnstat vollbrachte, die in ihrer Auswirkung für Millionen deutscher Menschen die Vertreibung aus der angestammten Heimat bedeutet. Bismarck und Hitler, zwei Männer und zwei Welten! Ein großer Staatsmann und ein Dilettant!
Die Kolonnen kommen wieder in Bewegung. Wir müssen uns beeilen, dass der Anschluss nicht abreißt. Mit letzter Anstrengung, mit zerfetzten Gummireifen und dem Rest Treibstoff passieren wir die Brücke. Jetzt sind wir drüben, in „Sicherheit“, dem Grauen entronnen, das sich in dem Land zwischen Elbe und Oder ausbreitet. In der warmen Märzsonne wird gerastet und wieder einmal abgekocht. Jetzt kann ich meinen kleinen Opelwagen, der seit Misdroy an den Treckwagen angehängt wurde, mit dem letzten Sprit flott machen. Wir wollen nach Amelinghausen und dort Quartier machen für die 400 pommerschen Menschen, die sich mir anvertraut haben. Es wird nicht leicht sein, in der mit Vertriebenen überschwemmten Lüneburger Heide ein Unterkommen zu finden. Es kann nur gelingen mit Hilfe von Freunden, die uns erwarten und dabei helfen wollen.
Wir fahren durch die wenig beschädigte alte Stadt Lüneburg und dann durch gepflegte Dörfer, an schönen alten Höfen vorbei nach Amelinghausen und Ehlbeck. Ein vorläufiges Ende unserer abenteuerlichen Flucht ist sichtbar. In wenigen Tagen werden die bespannten Trecks zu uns stoßen, die Zoldekower unter der bewährten Führung unseres Statthalters Franz Potratz, die Schwenzer mit Hans Treichel an der Spitze. Es ist der 22. März 1945. Die Sorge und Arbeit um die Unterbringung von 400 Menschen und 56 Pferden, um die Erhaltung der wenigen geretteten Habe beginnt am gleichen Tage.
http://zeitzeugenbuch.klack.org/seite15.html
https://sites.google.com/site/zeitzeugen1945/flucht-1945/flucht-aus-zoldekow

Flucht aus Köslin über Kolberg und die Ostsee
Das Trauma meiner Kindheit

Monica Maria Mieckberichet:
Am 1. März 1945 hat mein Bruder Geburtstag und ist jetzt 9 Jahre alt. Wir sitzen mit unserer Mutter am Esstisch im Wohnzimmer. Plötzlich heulen die Sirenen, und der schreckliche Panzeralarm verbreitet die höchste Gefahrmeldung über unserer Heimatstadt Köslin. Das Geburtstagskind stößt vehement unter lautem entsetzlichem Weinen den Satz hervor: „Mama, die Russen kommen.“ Dadurch springt die Angst auch in mich hinein. Ich bin erst sechseinhalb Jahre alt und weiß noch nicht, was ein Krieg bedeutet. Aber der bisweilen auch nächtliche Fliegeralarm gehört selbstverständlich zu unserem Leben. Im grauen Luftschutzkeller ist es sehr kalt. Ich friere sogar in meinem Wintermantel. Unsere Mutter liegt im Wochenbett. Am 18. Februar hat die Hebamme sie von einem gesunden Mädchen in unserer Wohnung entbunden. Jetzt bin ich nicht mehr das Nesthäkchen. Am 1. März sitzt unsere Mutter schon wieder an der Nähmaschine, und in Eile näht sie einen Brustbeutel aus weißem Stoff für die wichtigen Papiere. Einen Tag später konsultiert sie unseren vertrauten Hausarzt, der sie mit folgenden Worten zur Tür begleitet: „Frau Mieck, es geht noch ein letzter Zug aus Köslin heraus, danach werden alle Brücken gesprengt. Die Russen sind schon im Gollenwald und haben eine totale Übersicht über die ganze Stadt. Gehen sie mit ihren fünf Kindern sofort auf die Flucht!“ „Aber Herr Dr. Schweinitz, ich konnte doch nicht eher, weil ich im Wochenbett lag.“ Mein aus brauner Presspappe gefertigter Tornister ist mit Strümpfen vollgepackt. Zwei Wintermäntel trage ich übereinander. So bin ich gut vor der bitteren Kälte, die Anfang März 1945 noch in Hinterpommern herrscht, geschützt. In meinem Puppenwagen, den ich erst 1944 zu Weihnachten geschenkt bekam, liegt mein erst 12 Tage altes Schwesterchen, und es schläft fast immer. Meine Mutter drückt mir noch eine Milchkanne in die Hand, deren Inhalt ich aber nicht mehr benennen kann. Der älteste Bruder kann schon zwei Koffer tragen. Er ist die Stütze der Mutter auf der langen dramatischen Flucht in den Westen. Die beiden anderen Brüder tragen auch kleinere Gepäckstücke, jeder nach seinen Kräften. Menschen in großer Ansammlung drängen auf den Bahnhofsvorplatz von Köslin.

Ich habe bisher noch niemals so viele Menschen dicht beieinander stehen gesehen. Ein Güterzug nimmt unsere sechs jungen kostbaren Leben in seine fahrbare schützende Obhut auf. Wir sitzen dicht beieinander auf Stroh oder einem Gepäckstück. Es fällt kaum Tageslicht in den Viehwaggon. Meine Mutter wärmt über einer Kerze das Milchfläschchen für unseren kleinen Säugling. Der langsam sich fortbewegende Zug braucht für die nur etwa 40 km bis nach Kolberg einige Tage, weil die Einfahrten nach Kolberg, das bereits von den sowjetischen und polnischen Verbänden eingeschlossen ist, von mehreren Seiten her mit vielen Flüchtlingszügen verstopft sind. So bleibt der Zug manchmal plötzlich auf freier Strecke lange stehen. Und wir wissen nicht, wann er seine Fahrt fortsetzt. Ein alter Mann hebt mich aus der Enge der hockenden Menschen aus dem Dunkel des Zuges heraus. Draußen im Tageslicht im Freien erledige ich unter schrecklicher Angst, der Zug könnte ohne mich weiterfahren, mein menschliches Bedürfnis. Feindliche Flieger beherrschen den Luftraum.
In dem unter Artilleriebeschuss liegenden Kolberg bekommen wir in einem großen dunklen Bunker Unterschlupf. Total übermüdete alte Männer, Frauen und Kinder sitzen gebeugt auf Stühlen, lassen zeitweise ihre Köpfe auf die Tische sinken. Auf manchen Tischen erhellt ein Hindenburglicht das angstvolle Dunkel. Ein fremder alter Mann rüttelt meine eingenickte Mutter am Arm mit den Worten: „Sind sie meine Frau?“ Später werden die Namen von zwei Kindern von einem Uniformierten aufgerufen. Ihre Mutter hat die Nerven verloren, sich die Pulsadern aufgeschnitten und ist in die eiskalte Ostsee gelaufen. Die mutterlosen Kinder werden aus dem Bunker herausgeholt. Und in meiner jungen Kinderseele spüre ich immer mehr Angst. Den dunklen kalten Bunker hinter uns lassend, sehen unsere Augen endlich wieder helles Tageslicht.
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