Langsam kommen die Häuser von Misdroy in Sicht, ruckweise geht es weiter. Auf dem Markt kommt weinend eine junge Frau auf uns zu. Sie trägt auf dem linken Arm einen Säugling, an der rechten Hand ein zweijähriges Mädchen. Sie bittet uns händeringend, sie mit bis Swinemünde zu nehmen. In der Nacht ist die Unglückliche mit den beiden Kindern und nur ganz wenigen Habseligkeiten zu Fuß aus dem brennenden Cammin geflüchtet und die ganze Nacht hindurchgewandert. Wir rücken noch enger zusammen und nehmen die armen Menschen mit.
Es geht wieder ein Stück weiter, aus Misdroy heraus. Ich sitze meistens bei Kurt, dem 15jährigen Treckerfahrer auf dem „Stock“-Schlepper. Jede kleine Lücke in der Kolonne vor uns muss ausgenutzt werden, jede Kriegslist ist erlaubt. Wenn es geht, hängen wir uns an Wehrmachtskolonnen an, die bevorzugt durchgeschleust werden.
So kommen wir gegen Mittag auf die große Bäderstraße, die Wollin mit Swinemünde verbindet und auf die unsere Straße bei Liebeseele stößt. Hier ist endgültig alles verstopft. Ein Verkehrsposten leitet unseren Zug auf eine freie Stelle vor dem Forsthaus Liebeseele. Hier müssen wir warten. In mehreren Reihen stehen vor uns auf der Straße die Treckfahrzeuge nebeneinander. So soll es bis Swinemünde aussehen, 9 km und 16.000 Treckfahrzeuge liegen vor uns auf der Straße. Die Schiffsbrücke kann nur bei Dunkelheit befahren werden, da sie tagsüber ausgefahren wird, um den Schiffsverkehr auf der Oder nicht zu behindern.
Die Straße von Wollin bis Liebeseele ist ebenfalls von Fahrzeugen und Flüchtlingen verstopft. Wollin selbst soll brennen, die Brücke über die Dievenow gesprengt sein. Bei Porlowkrug haben russische Panzerkolonnen viele Trecks überrollt und aufgerieben, darunter die Trecks aus Benz und Schnatow. Versprengte von diesen Trecks, die sich zu Fuß durchschlagen, bringen uns diese Meldung. Mit zwei anderen Damen kommt zu Fuß die alte Gräfin von Flemming aus Schnatow bei uns an. Sie hat nur einen Apfel gerettet, den sie in der Hand trägt. Wir freuen uns, dass unser Küchenwagen sie erfrischen kann.
Ich mache mich zu Fuß nach vorne auf den Weg, um zu erkunden, wie es dort aussieht und wann wir dort Aussicht haben, weiter zu kommen. Zwischen Treckfahrzeugen halten Kolonnen der Wehrmacht, lettische Freiwillige, Wlassow-Formationen, zurückgeführte Kriegsgefangene, Versprengte. In den Wäldern brennen große Feuer, um die sich frierende und hungrige Menschen drängen. Tote Pferde und zerbrochene Fahrzeuge säumen die Straße. Dazwischen hin und wieder ein frischer Hügel aufgeworfen, mit einem einfachen Kreuz aus Birkenholz. Hier sind Menschen, meist alte Leute oder kleine Kinder auf der Landstraße gestorben und verdorben.
Mein Plan steht fest. Sobald die Schiffsbrücke wieder geöffnet ist und es vor uns Luft gibt, will ich versuchen, mit unserem Treck an den haltenden Kolonnen vorbei nach vorn zu kommen.
Als ich wieder nach Liebeseele zurückkehre, bricht die Dämmerung herein. Wir bereiten in aller Stille unseren baldigen Abmarsch vor. Dann gehe ich vor dem Trecker her, und wir kommen langsam, schrittweise weiter. Es geht oft haarscharf an den Straßenrändern und Böschungen vorbei. Die Straße ist vereist. Zwischendurch gibt es stundenlangen Aufenthalt. Kalt und dunkel ist diese zweite Nacht. Ab und zu weint ein Kind. Die Wachtfeuer beleuchten Szenen von wilder Romantik. Viele Fahrzeuge halten am Rande. Die Fahrer sind eingeschlafen. So kommt es, dass wir oft kilometerweit die Straße frei vor uns finden und ein gut Stück vorankommen. Es ist eine lange, kalte Nacht, aber auch sie geht zu Ende. Gegen Morgen sind wir in Pritter, etwa 5 km vor Ostswine. Die Schiffsbrücke war die ganze Nacht hindurch geöffnet, und es hat Luft gegeben. Jetzt wird sie wieder ausgefahren, und ein neuer Rückstau setzt ein. Wir sind jetzt wieder in eine dicke Kolonne eingereiht, und es geht nur schrittweise voran. Immer wieder kommen uns Truppen und motorisierte Artillerie entgegen, die bei Wollin und Dievenow eingesetzt werden sollen. Man spricht von einem bevorstehenden Gegenangriff.
Wenn wir Glück haben, treffen wir noch heute in Ostswine ein und können vielleicht noch mit einer Fähre übersetzen. Ich mache wieder einen Erkundungsgang nach vorn. Fräulein Bärbel passt auf, dass unser Treck nicht abgehängt und jede Möglichkeit, nach vorn zu kommen, ausgenutzt wird. Die schwere Festungsflak in Swinemünde schießt pausenlos Sperre. Ich stehe nach einer Stunde am Hafen. Der Übersetzverkehr mit zwei kleinen Fähren geht langsam vonstatten. Wir werden heute kaum damit rechnen können, dass wir übersetzen können. Ich bemühe mich daher um ein warmes Nachtquartier für die Frauen und Kinder. Es wird mir von der Marine eines in Aussicht gestellt. Ich gehe zurück, unserem Lastzug entgegen.
Um 16 Uhr trifft unser Lastzug in Ostswine ein. Hier werden wir durch einen Verkehrsposten in eine Seitenstraße geleitet, wo wir, festgekeilt in eine andere Kolonne, stehen bleiben müssen. Es wird also wieder nichts mit dem warmen Nachtquartier. Vielleicht kommen wir in der Nacht noch über die Fähre.
Ich will noch allein mit der Fähre übersetzen und für den Schwenzer Motortreck Brennstoff organisieren für die Weiterfahrt. Leider hat der Russe, wie ich erst jetzt erfahre, den Raupenschlepper, der den Brennstoff nachführen sollte, beschossen. Ich will gleichzeitig versuchen, in einem warmen Raum in der Stadt einige Stunden zu schlafen, denn ich fühle, wie meine Kräfte nachlassen.
Ich treffe im Büro der landwirtschaftlichen Genossenschaft Bekannte und Freunde. Die Brennstoff-Frage wird gelöst. Ein Hotelzimmer ist für mich bereitgestellt, wo ich, ohne Stiefel und Kleider auszuziehen, auf das Bett sinke und augenblicklich in festem Schlaf liege.
Durch eine gewaltige Detonation werde ich im Bett hochgerüttelt und bin wieder munter. Es ist 4 Uhr früh. Ich eile sofort wieder zur Fähre und fahre nach Ostswine herüber, um unseren Lastzug zu suchen. Stundenlang laufe ich in der Dunkelheit an langen Reihen von Fahrzeugen vorüber, ohne ihn zu finden. Ein Schutzmann sagt mir, dass landwirtschaftliche Schlepper in der Nacht über die Brücke geleitet worden seien. Ich eile zur Brücke. Keine Spur von unseren Wagen! Zur Fähre zurück! Nichts! Noch einmal zurück nach Swinemünde! Keine Spur!
Ein Rossschlächter, der von Usedom kranke Pferde abholen soll, nimmt mich mit in Richtung Usedom. Es wäre möglich, dass der Lastzug in der Nacht über die Brücke gezogen und in Richtung Usedom weitergetreckt ist. Wir fahren an vielen Treckfahrzeugen vorbei. Unser Lastzug ist nicht darunter. Ich fahre nach Swinemünde zurück und treffe plötzlich auf unser Fahrzeug, das gerade in den Hof der Genossenschaft einbiegt. Eben erst sind sie mit der Fähre übergesetzt. Ich habe die Wagen in der Dunkelheit nicht gesehen.
Die Frauen und Kinder waschen sich und schlafen dann in einem warmen Zimmer auf Stroh, die Frau aus Cammin, die uns von Misdroy aus begleitet hat, wird vom Roten Kreuz aufgenommen. Ich nehme Verbindung mit dem Schwenzer Motortreck und den beiden bespannten Trecks auf, die noch östlich Pritter halten. Marschbefehle für den Weitertreck nach Erdmannshöhe bei Demmin werden ausgestellt.
Es wird von einem bevorstehenden Fliegerangriff auf Swinemünde gesprochen. Ich will noch vor Dunkelheit aus der Stadt heraus mit unseren Wagen, so gern ich allen die verdiente Ruhe gegönnt hätte. Um 15 Uhr ist also wieder einmal Abmarsch in Richtung Usedom. Die Straße ist bergig, oft muss ein Wagen abgehängt werden, den der Trecker dann nachholen muss. Beim Flugplatz Garz will an einem steilen Berg plötzlich der kleine Stockschlepper nicht mehr ziehen. Die Kupplung rutscht! Verflucht! Das fehlt noch! Ein Wehrmachtsfahrzeug schleppt die Wagen zu einem Gehöft an der Straße. Durch eine Werkstattkompagnie wird mein Pkw behelfsmäßig wieder hergestellt. Ich muss nach Swinemünde zurück, um den tüchtigen Werkmeister Georg Lenz, der sich beim Schwenzer Motortreck befindet, zu holen und nach Möglichkeit eine neue Kupplung zum „Stock“ beschaffen.
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