Doch der Mann mit der Hornbrille war nicht von hier. Das sah Rieke sofort. Er bereitete ihr etwas Unbehagen. Die Hornbrille war so dominierend, dass es aussah, als wäre der ganze Mann nur Beiwerk zu der Brille. Er schaute sich aufmerksam in dem Laden um.
„Kann ich etwas für Sie tun?“, sprach Rieke ihn schließlich an.
„Darf ich mich hinsetzen und einen Kaffee trinken?“, fragte die Hornbrille und zeigte auf die Sitzecke.
„Selbstverständlich! Ich brühe einen frisch auf“, erwiderte Rieke und wollte sich hinter die Theke zurückziehen.
„Nein danke! Nicht nötig!“, dankte der Mann, nahm eine Thermoskanne aus seiner Aktentasche und stellte sie auf den Tisch. Rieke sah sprachlos, wie der Mann bedächtig den Becher abschraubte, den Verschluss aufdrehte und sich heißen Kaffee eingoss. „Ich nehme grundsätzlich keine Geschenke an! Auch keine Getränke!“, betonte er mit erhobenem Zeigefinger.
„Wieso Geschenke?“, fragte Rieke irritiert. „Bei uns zahlen die Gäste gewöhnlich.“
„Mein Spesenkonto ist sehr dürftig. Da habe ich mir angewöhnt, meinen Kaffee selber mitzubringen.“
Rieke wollte sich nicht mit ihm anlegen, und die Witwe Schattenbein tippte sich an den Kopf. Der schien verrückt zu sein.
Skeptisch schauten die beiden zu, wie der Brillenträger einen Aktenordner aus der Tasche holte und auf den Tisch legte. Er zog einige Fotos heraus und verglich sie offensichtlich mit der Einrichtung. Helma Schattenbein schlich sich unauffällig heran und schaute ihm über die Schultern. „Es sind alles Fotos von unserem Laden“, flüsterte sie Rieke zu. Dieser platzte jetzt endgültig der Kragen.
„Darf man fragen, was Sie da machen?“, wollte sie wissen.
„Oh, Verzeihung! Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich ziehe es vor, mir erst einmal einen eigenem Eindruck zu verschaffen, bevor …“
„Bevor was?“, unterbrach Rieke ihn.
„Bevor ich zur Prüfung übergehe“, setzte der Mann unbeirrt fort. „Mein Name ist Hornglas. Das ist leicht zu merken!“, fügte er hinzu und tippte an seine Brille. „Ich vertrete das Landesamt für Denkmalschutz, genauer gesagt überprüfe ich den Zustand der Objekte, die als Weltkulturerbe bei der UNESCO eingetragen sind.“ Er überreichte Rieke seine Visitenkarte.
Diplomverwaltungswirt Amtsoberinspektor Roland Hornglas, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalschutz , stand dort.
Hornglas blätterte in seinen Unterlagen. „Nach der Eintragung im Grundbuch ist das Objekt an Herrn Friedrich und Frau Rieke Rupp übertragen worden. Deshalb ist es erforderlich, eine erneute Bestandsaufnahme vorzunehmen.“
„Das bin ich“, bestätigte Rieke. „Ich bin Rieke Rupp. Mein Mann ist gerade auf dem Schiff.“
Der Amtsoberinspektor nickte. „Dann sind Sie also meine Ansprechperson“, meinte er mit einem Blick auf Helma Schattenbein, die mit gespitzten Ohren hinter der Theke stand.
„Frau Schattenbein hat den Laden bisher ehrenamtlich geführt und wird es auch weiterhin tun“, erklärte Rieke. Die Witwe gab sich keine Mühe mehr, unauffällig dreinzuschauen.
„Ja“, nahm Hornglas zur Kenntnis, „aber Sie sind verantwortlich!“
Rieke bestätigte. Ihr wurde langsam unheimlich. Was kam da auf sie zu? Sie wünschte sich jetzt sehnlichst ihren Mann herbei.
Der Mann nahm wieder die Fotos zur Hand und zeigte sie Rieke. „Wie man erkennen kann, ist die gesamte Einrichtung gegen eine modernere Version ausgetauscht worden. Das gilt übrigens auch für das Ladenschild über der Tür. Damit wurde der Charakter des Objekts wesentlich verändert. Das ist nicht gestattet.“
„Und das bedeutet?“, fragte Rieke beklommen.
„Dass der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werden muss. Gemäß Kaufvertrag haben Sie sich bereit erklärt, alle Verpflichtungen zum Erhalt des Weltkulturerbes zu erfüllen.“
„Und wenn ich das nicht kann?“
„Schlimmstenfalls wird der Status des Weltkulturerbes wieder aberkannt. Doch das wird teuer. Sie müssten die ganzen Verfahrenskosten, die Kosten für die Löschung weltweit und so weiter und so weiter tragen. Das würde ich nicht empfehlen.“
„Wie sollen wir das denn machen?“, lamentierte Rieke. „Ich weiß ja noch nicht einmal, was aus der Einrichtung geworden ist.“
„Die wurde vor ein paar Jahren auf das Schiff gebracht“, mischte sich jetzt Schattenbein ein. Mehr wusste sie aber auch nicht.
Rieke bekam eine Frist von drei Monaten, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen. Hornglas packte seine Thermoskanne und die Akten wieder ein und bedankte sich. Wofür eigentlich, fragte sich Rieke, er hatte doch gar keine „Geschenke“ bekommen – noch nicht einmal einen Kaffee.
Die Einrichtung befand sich tatsächlich seit einigen Jahren an Bord des Seniorenschiffes, wo der Reeder einen ganz persönlichen Tante-Emma-Laden mit der kompletten Originaleinrichtung aus Dorpamarsch für Emma eingerichtet hatte. Dass man dadurch gegen die Bestimmungen zum Erhalt des Weltkulturerbes verstoßen hatte, war niemandem bewusst geworden.
Emma war bis zu ihrem Tode im Alter von 114 Jahren auch die Seele des Ladens an Bord gewesen. Mit ihrem Ableben verlor er aber seine Bedeutung. Jetzt wurde die Einrichtung in Dorpamarsch benötigt. Also beschlossen Reeder und Kapitän, den Bordladen aufzulösen und die Einrichtung wieder nach Dorpamarsch zu schaffen. All das organisierte Raupe, und alle waren damit zufrieden.
Rasputin hatte ihn gewähren lassen. Da er noch keinen Geschäftsführer hatte, war er froh, dass Raupe ihm das alles abnahm. Raupe war ohnehin ein Universalpraktiker. Trotz seiner Bescheidenheit war er zu allem bereit, und vor allem – er konnte auch alles. Rasputin hatte vollstes Vertrauen zu ihm. Eigentlich, dachte er sich, wäre Raupe auch der ideale Geschäftsführer, denn seit dem Verschwinden Kömmels brauchte er jemanden, dem er auch vertrauen konnte.
Raupe zögerte auch nicht lange und nahm das Angebot an.
Einen großen Teil seiner Arbeit leistete Raupe an Bord im Büro des Geschäftsführers, es gab aber auch Dinge an Land zu erledigen. Dazu hatte ihm die Reederei ein Büro in Bremen zur Verfügung gestellt. Wenn er dann noch die Heimfahrten nach Dorpamarsch dazurechnete, war er viel unterwegs. Er benötigte dringend einen fahrbaren Untersatz.
Sein Vorgänger Kömmel war noch immer spurlos verschwunden. Raupe räumte seinen Schreibtisch leer und bewahrte Kömmels persönliche Unterlagen in einem Karton auf.
Einige Wochen später bemerkte Rupp einen großen Umschlag in einem der Schubladen. Wie kam der dort hin? Raupe war sich sicher, alles ausgeräumt zu haben.
Er öffnete den Umschlag. Zahlreiche Pläne kamen zum Vorschein, die Rupp zunächst nicht zuordnen konnte. Je länger er sich aber damit beschäftigte, desto rätselhafter wurde das Ganze. Was hatte Kömmel – und nur von diesem konnte das stammen – da aufgetan?
Nach einer Nacht voller Arbeit wurde Raupe bewusst, was er hier in der Hand hielt.
Der Autoverkäufer schaute geringschätzig beiseite, als Rupp den Autosalon betrat. Er sah sofort: Dieser Kunde, wenn es überhaupt einer war, lag unter dem Niveau der Automarke, deren Stern gerade wieder aufging. Nach der großen Pleite begann die neu gegründete Public Mobile Group AG – allgemein nur, als „PM“ bezeichnet – unter dem alten Logo einen Neuanfang. Der SUV war gerade im März 2016 auf den Markt gekommen, allerdings nicht „Made in Germany“. Er wurde in China gebaut. Aber Konstruktion, Konzept und Entwicklung lagen in deutscher Hand, versicherten die Prospekte.
Raupe gab sich privat gern etwas lässig. Dazu gehörten auch die Jeans und die schwarze Lederjacke. Alles schon etwas abgetragen. Der Verkäufer beachtete ihn nicht, auch als Raupe demonstrativ um einen Ausstellungswagen herumschlich. Er polierte stattdessen einige imaginäre Fingerabdrücke an einem anderen Fahrzeug weg.
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