Für Nörenberg begann es aber erst. Die Sache wurde immer verworrener.
Er ließ sich von dem Brigadiere zum Kloster, das auf einem Felsplateau oberhalb der Stadt lag, hinauffahren und fragte nach Schwester Barbara, die ihnen bereitwillig das Grab an der Klostermauer zeigte. Sie bestätigte die Angaben des Schreiners. In dem Grab war im Jahre 1990 eine unbekannte weibliche Person, die im Wald gefunden worden war, beigesetzt worden. Nach den Angaben der inzwischen verstorbenen Schwester Adalgisa wurde es immer „Emmas Grab“ genannt, bis vor zwei Jahren ein Mann erschienen sei, der behauptete, es wäre das Grab von Dora Heldenreich. So stand es auch auf dem Grabkreuz: Dora Heldenreich – 1990.
Doch das warf wieder neue Fragen auf.
Dora Heldenreich lebte nachweislich bis zu ihrem Verschwinden 2000.
Emma Heldenreich lebte bis 2014 und wurde damit zur ältesten Frau Deutschlands.
Ihre Schwester Berta Heldenreich lebte bis 2000. Die Todesumstände von Emma und Berta waren damals geklärt worden. Beide lagen auf den Friedhof von Dorpamarsch. Nur Doras Verschwinden gab noch Rätsel auf. Hier schien also ihr Grab zu sein. Doch dann konnte sie nicht schon 1990 beerdigt worden sein, denn sie verschwand erst 2000. Das wiederum war das Sterbejahr von Berta.
Der Brigadiere wusste schon lange nicht mehr, worum es ging. Er hatte die Übersicht verloren und beschränkte sich inzwischen nur noch auf das Dolmetschen. Doch Nörenberg bekam so langsam eine Ahnung – es war nicht viel mehr als ein Gefühl.
Dora verschwand im gleichen Jahr, in dem Berta starb. Aber wie kam sie in den Wald bei Claro?
Bei der italienischen Carabiniere-Station befand sich noch die Ermittlungsakte von 1990. Rocco übersetzte, dass von der Ordensschwester Adalgisa die Leiche einer unbekannten Frau im Wald zwischen Claro und dem Kloster aufgefunden worden war. Die Obduktion hatte eine natürliche Todesursache durch Herzversagen – vermutlich aufgrund des Alters – ergeben. Ein Fremdverschulden hatte man ausgeschlossen und die Leiche dem Kloster zur Beisetzung überlassen. Lediglich die Identität der Toten konnte nicht geklärt werden. Der Fall war hier abgeschlossen.
Nörenberg hätte den Fall für sich auch gerne abgeschlossen, doch der Todeszeitpunkt der Unbekannten stimmte nicht mit dem Verschwinden Doras überein. Wer lag also in dem Grab, und wo war Dora abgeblieben? Beides war noch immer offen.
Eine dritte Frage war ebenfalls noch ungeklärt. Warum hatte Kömmel dieses Grabkreuz anfertigen lassen? Und noch dazu mit dem Geburtsdatum von Emma, was dann allerdings geändert wurde.
Dreh- und Angelpunkt schien Kömmel zu sein, den man aber nicht mehr befragen konnte. Lebte dieser vielleicht auch noch? Er war ebenfalls verschwunden, galt aber nach den polizeilichen Ermittlungen als tot. Hatte sich Nörenberg da geirrt? Hatte Kömmel alle an der Nase herumgeführt, und wenn ja, welche Vorteile brachte ihm das?
Es wurde immer verworrener, doch hier in Claro ließ sich nicht mehr ermitteln. Der Hauptkommissar beschloss, in Deutschland weiterzumachen und ließ einen mehr als verwirrten Rocco Roberto zurück.
In Bremen begann er, sich mit dem Vorleben Kömmels zu befassen und ermittelte, dass dieser neben der Tätigkeit als Geschäftsführer der EHS auch Vizedirektor bei der Nordelbischen Lotteriegesellschaft gewesen war. Von dieser hatte Emma Heldenreich bis zu ihrem späten Tod eine monatliche Rente von rund 10.000 Euro bezogen. Da gab es möglicherweise einen Zusammenhang. Nörenberg beschaffte sich einen Durchsuchungsbefehl für die Geschäftsräume der Lotteriegesellschaft und beschlagnahmte diverse Unterlagen. Bei der Sichtung wurde die Betrugsabsicht gegenüber Emma Heldenreich offenkundig. Kömmel hatte 1990 versucht, Emma über den Tisch zu ziehen, was jedoch dank der Hilfe ihres Arztes Dr. Rasputin nicht gelungen war. Es gab genügend handschriftliche Aktenvermerke von Kömmel, die das bewiesen.
Nörenberg kam zu dem Schluss, dass Kömmel nun – nach Emma Heldenreichs Tod – eine neue Gemeinheit geplant hatte, wahrscheinlich, sich deren Nachlass anzueignen. Da er wahrscheinlich ums Leben gekommen war und die Betrugsabsichten von 1990 ohnehin verjährt waren, schloss er den Fall jetzt endgültig ab.
Damit war Emmas Nachlass unangreifbar, und das Testament konnte vollstreckt werden.
Friedrich Rupp war noch immer Schiffsingenieur auf dem Senioren-Kreuzfahrtschiff. An Bord wurde er nur „Raupe“ gerufen, aber das war nichts anderes als die hochdeutsche Bezeichnung „Raupe“ für den plattdeutschen Namen „Rupp“. Aus Rupp wurde Raupe, doch niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn „Friedrich Raupe“ zu nennen. Deshalb wussten viele aus der Mannschaft auch gar nicht, wie er wirklich hieß.
Vor einigen Jahren, als Emma Heldenreich noch auf dem Schiff lebte, hatte der Reeder Dr. Henning Hansen auf ihren Wunsch auf dem Schiff einen Tante-Emma-Laden einrichten lassen, sozusagen als Treffpunkt der Seniorinnen zum Klönen und Kaffeetrinken. Der Verkauf von Kleinzeug aller Art war eher als Ambiente gedacht. Der Profit spielte eine untergeordnete Rolle. Im Grunde war der ganze Laden nur ein Geschenk an Emma. Damals hatte Rupp so leichthin gesagt, einen solchen Laden wünsche er sich auch, um ihn mit seiner Rieke zu betreiben. Dann wäre er immer mit ihr zusammen, statt nur in den kurzen Phasen seines Landurlaubs. Manchmal war er wochenlang auf See. Andererseits fühlte er sich wohl in seinem Beruf und auf dem Schiff. Er war nun einmal Seemann aus vollem Herzen.
Und nun hatte Emma in ihrem Testament seinen unbedacht ausgesprochen Wunsch erfüllt: Dr. Rasputin als Nachlassverwalter hatte ihm einen Tante-Emma-Laden verschafft. Und was für einen! Nicht nur irgend so ein Geschäft an Land, nein, sogar den echten ursprünglichen Tante-Emma-Laden, sozusagen die Urmutter aller Tante-Emma-Läden in Dorpamarsch. Was für eine Ehre!
Er zögerte aber, seinen Job an Bord sofort aufzugeben und nahm zunächst einmal unbefristet Landurlaub, um Rieke bei ihrem Start zu helfen. Sie hatte nämlich durchaus keine Ahnung davon, wie man einen Laden betreibt. Sie war von dem Testament ebenso überrascht worden wie ihr Mann. Genau genommen hatten beide keine Lust auf den Tante-Emma-Laden. Was sollten sie aber tun?
Das Testament war eindeutig: Die Hälfte des Vermögens – und das war nicht gerade wenig – ging an Friedrich und Rieke Rupp zum Erwerb und Betrieb eines Tante-Emma-Ladens. Mit anderen Worten: kein Laden, kein Geld!
Es wäre wirklich dumm gewesen, darauf zu verzichten. Also stürzte sich Raupe in die Arbeit und machte das Beste draus.
Schon bei der Überschreibung der Immobilie gab es aber die ersten Schwierigkeiten. Das Haus stand unter Denkmalschutz und durfte nicht wesentlich verändert werden. Das war kein Problem. Der Laden jedoch musste als Weltkulturerbe erhalten bleiben.
Die Grundbucheintragungen mit den entsprechenden Vermerken waren bereits erfolgt und der Notar leitete die Kaufunterlagen automatisch an die zuständigen Behörden weiter.
Die beiden Damen, welche den Laden zuletzt ehrenamtlich geführt hatten, waren Gold wert. Sie hatten – im Gegensatz zu Rieke – den vollen Überblick. Ohne die beiden wäre Rieke recht hilflos gewesen.
Bei dem folgenden Besuch eines vermeintlichen Kunden hätten sie allerdings auch nicht weiterhelfen können. Als Rieke gerade ein paar Kartons mit Ware auspackte, betrat ein unscheinbar aussehender Mann mit auffälliger Hornbrille den Laden und schaute sich um. Rieke ließ ihn zunächst in Ruhe. Man wusste nie, ob ein Kunde etwas kaufen oder nur den Laden ansehen wollte. Schließlich war er ja als Weltkulturerbe eingetragen. Das brachte auch so manchen Käufer von außerhalb in den Laden. Rieke war in der ersten Zeit von den Dörflern mit etwas Misstrauen angesehen worden. Schließlich war sie ja eine „Zugereiste“ ohne Wurzeln in Dorpamarsch. Doch nachdem die Dorffrauen gemerkt hatten, dass ihnen ihr geliebter Tante-Emma-Laden auch weiterhin erhalten blieb, akzeptierten sie auch Rieke. Raupe machte sich auch schnell bei den Männern beliebt, denn, obwohl er nicht Mitglied in der Freiwilligen Feuerwehr wurde, stand er gern mit seinen technischen Kenntnissen beratend oder praktisch zur Verfügung. Der Rest wurde ab und zu durch ein Bier im Roten Hahn gefestigt. So waren Raupe und Rieke inzwischen in die Dorfgemeinschaft integriert und kannten die meisten Bewohner persönlich. Dorpamarsch war immer noch sehr übersichtlich.
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