Raupe wollte empört etwas antworten, doch Walker fuhr weiter fort: „… und wir bieten Ihnen einen gut honorierten Beratervertrag an, über dessen Höhe wir uns sicher einigen können.“
Raupe war zunächst sprachlos. Er musste zugeben, dass er ursprünglich nur gedacht hatte, die Pläne wären durch Kömmel – auf welche Weise auch immer – entwendet worden. Dann hätte er sie zurückgegeben und alles wäre in Ordnung gewesen. Das Ganze war nur so kompliziert geworden, als die PM AG die Konstruktionen nicht als ihr geistiges Eigentum erkannte. Das schien sogar zu stimmen, sonst hätte man ihm keinen Beratervertrag angeboten. Genau genommen war das sehr großzügig. Also stimmte er zu.
Ein Aufatmen ging durch alle Teilnehmer. Walker stand auf, um Rupp die Hand zu geben, und alle Anwesenden applaudierten.
Über die Höhe des Beraterhonorars einigte man sich später in kleinerem Rahmen mit den beiden Direktoren.
Rieke hatte sich das Zusammenleben mit Friedrich Rupp ganz anders vorgestellt. Sie war jetzt 32 Jahre alt und er fünf Jahre älter. Seit 12 Jahren waren sie verheiratet, doch in dieser Zeit war er meist auf See unterwegs gewesen.
Den Tante-Emma-Laden wollten sie eigentlich gemeinsam betreiben, damit er ständig mit ihr zusammen sein konnte. Doch das hatte er nur in den ersten Wochen getan, als sie alles einrichteten und nach ihrem Geschmack umbauten. Die Umbauten durften natürlich das Weltkulturerbe nicht allzu sehr verändern. Im Prinzip wurde alles wieder so, wie es die drei Heldenreich-Schwestern einmal gemacht hatten. Einige Modernisierungen hatten weitgehend unsichtbar Einzug gehalten, wie zum Beispiel das elektronische Kassensystem. Emma Heldenreich hatte die einzelnen Waren noch auf schmale Papierstreifen geschrieben und blitzschnell aus dem Kopf zusammengezählt. Da war sie schneller als jeder Taschenrechner. Allerdings nahm die tägliche Zusammenfassung für das Finanzamt mehr Zeit in Anspruch. Das erledigte nun das neue Kassensystem auf Knopfdruck. Darüber war Rieke auch ganz froh.
Friedrich hatte sich wieder aus dem Laden zurückgezogen, als er die Geschäftsführung der Emma Heldenreich Stiftung übernahm. Das nahm viel Zeit in Anspruch. Dazu kam der neue Beratervertrag, der zwar mehr symbolisch gemeint war, doch Raupe nahm ihn sehr ernst. Die Weiterentwicklung des E-Bikes bis zum Prototyp wurde zu seinem Hobby. Am Anfang war man bei PM gar nicht so glücklich darüber, fürchtete man doch eine ständige unbequeme Einmischung, doch seine Ideen hatten immer Hand und Fuß.
Aber davon verstand Rieke nichts. Der Tante-Emma-Laden lief so leidlich weiter. Eigentlich hatte sich diese Ladenform schon lange überlebt. Die Supermärkte boten ein größeres Sortiment bei gleichzeitig geringeren Preisen. In Riekes Laden gingen die Frauen mit Einkaufstasche, zum Posuma-Supermarkt kam man mit dem Auto und fuhr mit gefülltem Kofferraum wieder zurück. Der Tante-Emma-Laden blieb nur durch die Anerkennung als Weltkulturerbe lebensfähig. Von weit her kamen Menschen, um dieses Relikt aus dem vergangenen Jahrhundert zu besuchen. Sogar Amerikaner und Japaner kamen, um sich in dem Laden umzusehen. Mit leichtem Grusel stiegen sie dann auch die steilen Treppen bis ins Gewölbe hinunter und ließen sich die damit verbundenen Geschichten erzählen. Das machte meist eine der Schattenbein-Frauen, während Rieke im Laden bediente.
Der geerbte Tante-Emma-Laden bestand aus zwei Wohnhäusern, welche direkt nebeneinander durch einen gemeinsamen Keller verbunden waren. Unter dem Keller befand sich das „Gewölbe“, auf das im Jahre 1941 der alte Friedrich Torfstecher aufmerksam gemacht hatte. Das stammte noch aus dem 19. Jahrhundert, war aber bis 1941 in Vergessenheit geraten. Während der Judenverfolgung im Dritten Reich hatten dort drei jüdische Familien Unterschlupf gefunden.
In einem der beiden Wohnhäuser befand sich schon zur Kaiserzeit der Kaufmannsladen von August Heldenreich, den nach seinem Tod die drei Töchter Emma, Berta und Dora weiterbetrieben. Nach der Ältesten Emma benannt, wurde daraus der erste Tante-Emma-Laden Deutschlands.
Im zweiten Haus betrieb nach dem Zweiten Weltkrieg der Elektriker Klasen Bungsberg ein Elektrogeschäft, bis der Supermarktbetreiber Arno Pototzki ihn in seinem Supermarkt aufnahm, um das gesamte Grundstück mit beiden Wohnhäusern kaufen zu können. Allerdings wurde zeitgleich das Haus wegen des historischen Gewölbes unter Denkmalschutz gestellt und wenig später der Tante-Emma-Laden zum Weltkulturerbe erklärt. Diesen Status hatte das Doppelhaus noch heute.
Im Haus über dem Laden wohnten jetzt Rieke und Friedrich, in dem anderen die Witwe Helma Schattenbein mit ihrer Tochter Luise.
Schwarzmarkt – Made im Gewölbe
Nicht nur in Dorpamarsch nahm die Anzahl der Menschen zu, die ihre Heimat verloren oder freiwillig verlassen hatten. Meist waren sie äußerlich schon von den Einheimischen zu unterscheiden. Überwiegend mit dunklerer Hautfarbe in allen Schattierungen sah man sie oft zu zweit oder in kleineren Gruppen durch die Straßen gehen, offensichtlich bemüht, alles richtig zu machen und korrekt auszusehen. Ja, darin unterschieden sie sich durchaus von den meist sehr nachlässig gekleideten ansässigen Bauern oder herumgammelnden Jugendlichen, obwohl sich das im Gegensatz zu den Großstädten sehr in Grenzen hielt. Kaum einer wusste so genau, wo die Zugereisten eigentlich untergebracht waren, und wie man sie korrekt nennen sollte, ohne sie zu diskriminieren. Das Wort „Neger“ war schon lange verpönt. Man nannte sie „Flüchtlinge“ oder „Asylanten“ oder auch „Ausländer“, manchmal auch „Menschen mit ausländischen Wurzeln“, je nach dem Status, den sie gerade hatten. Doch wer konnte das schon so genau wissen? Das sah man ihnen ja äußerlich nicht an – den Status natürlich, die Hautfarbe schon!
Als der erste Asylant in Dorpamarsch auftauchte, rumpelte die alte Frau Sengepuhl mit ihrem Rollator über die Dorfstraße und flüchtete in den Tante-Emma-Laden. „De swatte Buschkeerl is dor!“, kreischte sie aufgeregt.
Zugegeben, der dunkelhäutige junge Mann, der nach ihr den Laden betrat, rollte zwar gefährlich mit den Augen, sah ansonsten aber ganz freundlich aus. Das mit den Augen wirkte auch nur so, weil die hellen Augäpfel mit den schwarzen Pupillen in dem kohlrabenschwarzen Gesicht einen merkwürdigen Kontrast bildeten. Er schien die deutsche Sprache nicht zu beherrschen und zeigte deshalb auf ein paar Kekse, die unverpackt in einer Schale auf dem Tresen lagen. Er wurde geradezu überwältigt von der Gastfreundlichkeit der im Laden anwesenden Dorffrauen. Rieke bot ihm einen Platz in der Kaffee-Ecke an, servierte nicht nur die Kekse, sondern auch noch eine Tasse Kaffee. Die anderen Frauen standen hilfsbereit – besser gesagt, neugierig – um den schwarzen Mann herum. Alle sprachen gleichzeitig auf den armen Kerl ein, der kein Wort verstand. Das war schon eine kleine Sensation. Wer hatte schon mal einen Buschmann in Dorpamarsch gesehen. Mit Frau Sengepuhls Ankündigung des „Buschkeerls“ hatte er seinen Spitznamen weg.
Schnell nannte man auch alle anderen Ausländer „Buschis“, was eher liebevoll als diskriminierend gemeint war. Wer den Ursprung kannte, wusste das. Andere meinten, das klinge ebenso abwertend, wie zum Beispiel „Kanaken“. Es war gar nicht immer leicht, die richtige Anrede zu finden.
Bald hatten sich die Dörfler an den Anblick der Buschis gewöhnt, die sich immer häufiger sehen ließen. Sie waren stets freundlich und hilfsbereit, doch das größte Problem war die Sprache. In Dorpamarsch eigentlich in doppelter Hinsicht, weil viele Einheimische noch plattdeutsch snackten. Wie sollten die Fremden Deutsch lernen, wenn sie ganz andere Laute um sich herum hörten? Da musste man doch etwas unternehmen!
Читать дальше