Etwas weiter oben in der leicht ansteigenden, gepflasterten Straße war ein kleiner Schuppen, an dem die beiden Tore aufstanden. Ich schaute hinein und entdeckte allerlei merkwürdige Dinge. So gab es hier eine Menge handbetriebener Rasenmäher, Tonnen mit Rädern in allen Größen, Netze und in einem kleinen Handkarren lag ein schwerer Anker. Drum herum hingen rote Bojen von der Decke und an der Seite sah ich einige gebrauchte Fahrräder. Der Verkäufer unterhielt sich mit einem Kunden und ich ging rüber und schaute mir die Fahrräder an. Eins davon war in der Zwischenzeit schon mal schwarz nachlackiert worden. Dieses Rad interessierte mich, und gerade, als ich es hervorholen wollte, kam der Verkäufer in seinem grauen Kittel und meinte: „Moment, ich zeig es Ihnen.“ Er wuchtete es hervor und stellte es vor mir auf. Innerhalb des Rahmens hatte man ein Schild angeschraubt, auf dem stand „Bakery Gohl“. Vorne besaß das wuchtige Fahrrad mit dicken Reifen einen großen Metallkorb, und ich kam zu der Annahme, dass man damit Brot ausgefahren hatte. Am Hinterrad, auf beiden Seiten, hatte man ebenfalls zwei schmale Blechkästen mit Deckel angebracht. Es war aufgepumpt und machte auch sonst einen guten Eindruck. Das wäre was für mich, dachte ich. Dann könnte ich alles in den Korb legen und gleich weiterfahren, und ich käme nicht mehr in die Versuchung, noch irgendetwas in der Ruine zu erleben – weg von hier! Vielleicht zur Melrose Abbey, der mittelalterlichen Klosterkirche im Süden, ein ideales Zeichen-Objekt, allerdings weit weg. Oder - zur Insel Skye im Westen. Ich sah mich schon überall …, vor allem in den Highlands!
„Was würde das Rad kosten?“ Er überlegte kurz und sah mich an, als müsste er jetzt einen Sonderpreis machen. „Sie sind Ausländer …“ Dann ging er weg und kam mit einer Luftpumpe wieder. Nachdem er sie am Fahrrad befestigt hatte, meinte er: „Kommen Sie doch mal mit in den Laden.“ Wir gingen durch eine Seitentür in einen Raum, der auch ein Schaufenster besaß. Auf der Theke stand eine alte Kasse, die scheinbar noch funktionierte und im Gebrauch war. Daneben lagen eigenartige kleine Werkzeuge, bei denen ich keine Funktionen erkennen konnte. Links stand ein Regal mit Kästen, in denen Nägel und Schrauben sortiert waren. An der anderen Wand hingen kleinere Anker von einem Balken herab. Netze, Reusen und allerlei Haken waren in Regalen und an den Wänden aufgehängt. Zwischendrin standen ein Ambos und ein Schraubstock. Alles hatte den Anschein einer Reparatur-Werkstatt. So was hatte ich noch nicht gesehen, aber auch nicht erwartet, schon gar nicht in dieser Straße. Von draußen schaute gerade ein alter Mann herein, von dem ich glaubte, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben, doch wo, ich hatte doch kaum Gespräche mit Einheimischen?
Der Verkäufer legte mir noch Fahrradflickzeug und etwas Werkzeug auf die Theke. „Das gebe ich Ihnen noch dazu.“ Er machte einen annehmbaren Preis, und ich zahlte es mit Freude. Jetzt war ich mobil. Toll …! Dann legte er mit Wucht einen zusammengerollten Strick auf die Theke: „Ist der gut so?“ Ich schaute den Strick und dann ihn an. „Was soll der Strick?“, fragte ich ihn und ahnte schon wieder etwas, das mich von meiner Tour abringen könnte. „Na ja, Sie fragten doch eben nach einem Seil.“ Ungläubig sah er mich an. „Ach so“, war meine Antwort, um nicht bekloppt zu wirken. „Dreißig Meter, und ein Karabinerhaken ist auch noch dran“, war seine Erklärung. Allerdings hatte ich keine Ahnung, woher er wusste, dass ich auch nach einem Strick suchen sollte oder wollte.
Nachdem ich auch das bezahlt hatte, nahm ich das Fahrrad und fuhr etwas weiter, die Straße entlang, um nach einem Lebensmittelgeschäft zu suchen. Hell erleuchtet war der Eingang zu diesem Laden, der scheinbar auch alles hatte, was das Herz begehrte. Hier deckte ich mich ein mit Proviant für mehrere Tage und einigen Sprudelflaschen. Natürlich frisches Brot und leckere Scones, von denen ich mir sagen ließ, dass sie ein Traditionsgebäck seien. Alles ließ sich wunderbar auf dem Rad unterbringen. Und so fuhr ich dann die Straße zurück und wollte dann weg von der Ostseite und begab mich auf die Straße nach Süden, um dann später nach Westen abzubiegen. Doch schon nach der ersten Biegung war die Straße gesperrt, und ein Schild teilte mit, dass die Straße weggeschwemmt worden sei, beim letzten Sturm. Umgehen?! Über die Wiesen ging es nicht, hier begann ich mit meinen Fahrrad und dem Gepäck einzusinken. Also wieder umkehren. Ich dachte, dass vielleicht die Hauptstraße, in der ich eingekauft hatte, so etwas wie eine Umgehungsstraße sein könnte und fuhr wieder dorthin. Immer noch hing ein starker Fischgeruch in der Luft.
Als ich die Straße hinauffuhr, wollte ich dem Verkäufer noch mal zuwinken, wenn ich an dem sonderbaren Geschäft vorbeikomme. Doch, wie groß war mein Erstaunen, als ich das Geschäft sah! Was ich bemerkte, ließ mich anhalten. Ich stellte mein Fahrrad ab und ging zu dem Schuppen. Ein langes Brett war quer über die beiden Holztore genagelt, als wäre schon lange niemand mehr hier gewesen. Als ich dann durch das Schaufenster sah, war meine Verwunderung noch größer: in dem Geschäftsraum befand sich nichts mehr. Nichts! Er war total leer, und an der Eingangstür hing innen ein Schild mit Kreide auf eine Tafel geschrieben: „Wegen Todesfall geschlossen“.
Ich ging verwundert einen Schritt zurück und wollte zum Fahrrad. Da bemerkte eine alte Frau, die gerade hier vorbeikam, meine Verwunderung. „Es ist der einzige Schandfleck in dieser Straße. Die hatten das Geschäft kurze Zeit nach dem Krieg zugemacht. Der Besitzer war damals an Kram gestorben, nachdem er erfahren hatte, dass seine beiden Söhne gefallen waren. Er konnte es nicht überwinden. Das ist jetzt …ungefähr … zwanzig Jahre her. Mein Gott, wie Zeit vergeht.“ Dann sah sie mein Fahrrad: „Wo haben Sie denn das her? Die Bäckerei gibt’s doch auch schon lange nicht mehr. Sie war dort oben. Sehen Sie den Neubau?“ Sie zeigte mit ihrem Stock in die Richtung, dann humpelte sie, auf ihren Stock gestützt, die Straße hinunter, ohne ein weiteres Gespräch. Sie hätte mich doch für verrückt erklärt, hätte ich ihr gesagt, dass ich es erst vorhin hier gekauft hatte. Ich sah, dass ungefähr an der Kirche die Straße endete und nur unausgebaute Wege weiterliefen und kehrte um. Es sah so aus, als wenn man mir den Weg versperren wollte, damit ich nur hier bleibe. Warum? Nun gut, dann bleibe ich noch etwas hier. So strampelte ich wieder mit dem ganzen Gepäck zurück. Einen von den kleinen Kuchen angelte ich mir aus den Tüten, und während ich bei tollem Sonnenschein über den Feldweg radelte, genoss ich den süßen Kuchen aus vollem Herzen. Ich war wieder im Lot!
Als ich wieder an der Ruine ankam, suchte ich einen Platz fürs Fahrrad. Hinter einer Mauer, nicht direkt einsehbar, war ein kleiner Hof - vielleicht war es vorher ein Zimmer - dort stellte ich es ab. Dann überlegte ich, ob ich einen anderen Raum, der noch begehbar wäre, aufsuchen sollte, und so stieg ich nicht die Treppe hinab, sondern blieb auf gleicher Höhe, wie der Eingang einst gewesen war. Dort war ebenfalls noch ein Raum, direkt über dem anderen, der zwar mit Stein- und Putzbrocken übersät war, aber auch er schien wasserdicht zu sein. Und so brachte ich mein Gepäck und Proviant dort hin. Räumte etwas die Steine zur Seite und breitete meine Luftmatratze und die Decken aus. Während ich mir einige Brote zurechtgemacht hatte und sie mir einverleibte, sah ich aus dem Loch in der Wand, was ehemals ein Fenster gewesen war, über die See. Ein herrliches Blau des Himmels traf ein intensiveres Blaugrün des Meeres. Fast keine Wolken. Dieses Bild trug sehr zu meinem Wohlbefinden bei und ich hielt es als Zeichnung und Farbskizze für ein späteres Gemälde fest.
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