Vielleicht würde sich aus dem Abend in Connor McLeods Haus ja etwas ergeben, das Charlottes Zukunft rosiger aussehen ließ ...
Der Abend war wunderbar kühl, und ein prächtiger Vollmond erleuchtete den großen Garten vor Connor McLeods »Chateau«. Bequeme, aus Rattan geflochtene Stühle und kleine Tische waren auf der großen Veranda aufgestellt worden, vom Tanzen erhitzt und außer Atem waren die meisten Gäste während der Pause der Musiker nach draußen geflohen, um sich ein wenig abzukühlen. Arthur konnte keinen freien Platz mehr ausmachen. Aber sein praktischer irischer Verstand fand rasch eine Lösung dieses Problems. Von der Veranda führte eine lange, flache Holztreppe hinab in den Garten. Er führte Charlotte den letzten, ein wenig höheren Treppenabsatz hinunter, kramte ein Taschentuch hervor und breitete es für das junge Mädchen auf dem Holz aus. Dann verschwand er, um ein Glas Bowle für sie zu besorgen.
Auf dem Weg zurück begegnete er Oberstleutnant Sherbrooke, Major West und Fähnrich Fitzgerald. Sie standen in einer kleinen Gruppe mit Offizieren aus einigen anderen in Kalkutta stationierten Regimentern beisammen. Wesley gab ihnen mit dem Kopf ein Zeichen, ihm zu folgen.
»Dir scheint es offensichtlich besser zu gehen als uns dreien«, bemerkte Sherbrooke, als er sah, dass sein Kommandeur sie zu einem Mädchen in dunklem Ballkleid geleitete.
»Niemanden zum Tanzen gefunden?« erkundigte Wesley sich belustigt.
»Nicht mal einen einzigen Tanz! Die Damen haben alle volle Ballbüchlein, und man muss sich als Neuankömmling hinten anstellen.« »Ihr hättet es vielleicht bei den Müttern versuchen sollen«, riet der Kommandeur des 33. Regiments seinen Offizieren. Sein Blick war dabei auf den neunzehnjährigen Fähnrich Fitzgerald gerichtet. Der jüngste Bruder des Ritters von Kerry schluckte entsetzt. »Sir?«
Arthur nickte ihm ernst zu. Fitzgerald war der jüngste Offiziersanwärter seines Regiments und der Bruder eines alten Freundes aus irischen Kindertagen. Der Ritter von Kerry hatte Wesley vor der Abreise nach Indien gebeten, den »Kleinen« unter seine Fittiche zu nehmen und gut auf ihn aufzupassen.
»Nichts für ungut, Fähnrich! Ich habe eine junge Lady gefunden, die sicher glücklich wäre, wenn Sie sie um einen der nächsten Tänze bitten.«
Zuerst drückte der Oberst Charlotte ihr Glas in die Hand, dann stellte er ihr reihum und gemäß ihrem Dienstalter seine Offiziere vor. Weder Sherbrooke noch West noch Fitzgerald wagten es, in Anwesenheit ihres strengen Vorgesetzten eine Bemerkung über die runde Brille auf Charlottes Nase zu machen, und jeder bat das Mädchen pflichtbewusst um einen der nächsten Tänze. Glücklich streckte die Tochter von Sir Edwin Hall jedem ihr Ballbüchlein entgegen und ließ sie unterschreiben, während Arthur zufrieden zuschaute. Als sich dann auch noch eine nette Unterhaltung zwischen seinen Offizieren und der kleinen Lady entwickelte, spiegelten sich Zufriedenheit und Genugtuung auf seinem Gesicht. Er mochte es nicht, wenn man einen Menschen wegen irgendeinem Makel, für den er nichts konnte, aus der Gesellschaft ausschloss.
Aus den drei Offizieren des 33. Regiments wurden schließlich fünf und dann sieben. Nur Major John Shee ließ sich nicht bei der Gruppe blicken.
Als das Orchester des 74. Hochlandregiments wieder zu spielen anfing, bedeutete Arthur seinen Männern aufmunternd, mit Miss Hall in den Ballsaal zurückzukehren, während er selbst sich in eine Ecke stellte und mit strengem Blick darüber wachte, das alle sich dem jungen Mädchen gegenüber angemessen benahmen. Nachdem sämtliche Offiziere des 33. Regiments, bis hinunter zu den beiden Fähnrichen, mit Miss Hall getanzt hatten und sie kurz nach Mitternacht schon ganz außer Atem war, nahm Arthur sie wieder in seine Obhut und führte sie auf die nun menschenleere Veranda hinaus in die indische Nacht. Wegen der vielen Insekten, die vom Licht der großen Kronleuchter angezogen wurden, schloss ein Bediensteter sorgfältig die Tür hinter den beiden. Draußen hörte man nur noch die gedämpfte Musik und das Zwitschern vieler hundert Vögel, die in den alten Bäumen des großen Gartens nisteten.
»Ist die kleine Lady mit dem Ball zufrieden?« erkundigte sich Wesley. Charlotte nickte glücklich. »Ihr tun inzwischen sogar die Füße weh. Danke, ich habe mich noch nie so gut unterhalten, seit Mama und Papa mich zu gesellschaftlichen Empfängen mitnehmen. Und Sie, Oberst Wesley? Sind Sie auch mit dem Ball zufrieden?«
Arthur legte den Kopf schief und blickte Miss Hall lange in die blauen Augen. »Nicht nur mit dieser Abendgesellschaft ... Sie wissen viel über Indien, kleine Lady, und Sie verstehen es, Ihre Zuhörer zu fesseln.«
Charlotte nahm ihre runde Brille von der Nase und begann verlegen mit dem ungeliebten Objekt zu spielen. »Indien existiert nicht, Oberst Wesley. Ich kenne mich lediglich hier in Bengalen ziemlich gut aus, weil ich in Kalkutta zur Welt gekommen bin und viel mit meinem Vater herumreisen durfte – Digha, Bakkhali, Sagar, Vishnupur, Shantiniketan, Doars. In den heißen Monaten des Jahres, kurz vor Beginn des Monsuns, habe ich dann mit meiner Mutter in den Bergen gelebt. Wir besitzen ein Haus in Kishangani. Dort ist es angenehm kühl, und die Landschaft ist wunderbar grün, wenn hier in der Stadt alles in braunem Staub versinkt. Man kann sogar die weißen, schneebedeckten Gipfel des Himalaja sehen. Manchmal male ich mir aus, was sich auf der anderen Seite der Berge befindet: Dorje Ling, Sikkim, Bhutan, Xigaze Shan – Welten, die noch kein Europäer betreten hat. Nicht einmal die Soldaten des Königs wagen sich hinauf in den Schnee und das ewige Eis. Die Gipfel des Kanchenjunga kann man niemals sehen. Sie liegen in einem Meer von Wolken verborgen. Man sagt, es gibt dort oben Schneemenschen und Ungeheuer, und wenn ein Unwetter über die Berge hinwegfegt, gibt es sogar Tage, an denen ich diese Ammenmärchen glaube.«
»Zu Hause in Irland gab es auch ein paar Ammenmärchen, an die ich als Kind immer glauben wollte. Erzählen Sie mir mehr von Ihren Schneemenschen und Ungeheuern und von diesen sagenhaften Welten hoch oben in den Bergen, Miss Charlotte.«
»Kommen Sie am Sonntagnachmittag zum Tee zu uns, und ich zeige Ihnen meine Zeichnungen, Oberst. Warum interessiert Sie das alles eigentlich? Die anderen Herren Offiziere ... ihnen ist dieses Land gleichgültig, solange sie nur ein paar gute Ponys finden, um Polo zu spielen oder eine Offiziersmesse mit einem Backgammonbrett, Karten und reichlich Brandy zu besuchen ...«
Neugierig fixierte Charlotte Arthurs blaugraue Augen, als versuchte sie darin den tieferen Grund für seine Fragen zu lesen. Ihre kleine Brille kreiste zwischen Mittel- und Zeigefinger durch die Luft. »Vielleicht, weil ich Polo für einen dummen Sport halte und nicht genug Geld habe, um mich in der Offiziersmesse beim Backgammon zu ruinieren. Vielleicht, weil ich Brandy für ein abscheuliches Getränk halte, mit dem man sich in diesem Klima in kürzester Zeit umbringt, ohne dabei die Hilfe eines ehrenvollen Gegners in Anspruch zu nehmen ...«, antwortete Wesley der jungen Dame amüsiert. »Ich nehme Ihre Einladung zum Tee gerne an, Miss Hall. Wenn Ihre Eltern es erlauben ...«
Kapitel 5 Das Rad des Lebens
Arthur hatte Sir John Shore seinen Plan für eine Offensive gegen Spanisch-Manila und ein langes, detailliertes Papier über die Organisation eines militärischen Nachrichtendienstes übergeben. Er hatte geheimnisvolle nächtliche Ausflüge nach Hoara unternommen, um mit Lutuf Ullah zu diskutieren, dem Pferdehändler aus Kabul. Er war mehrmals mit William Hickey zusammengetroffen, und schließlich auch mit dem für Kartographie verantwortlichen Offizier der Ostindischen Kompanie. Er hatte einen herrlichen Sonntag im Haus von Sir Edwin Hall verbracht und dabei die Zeichnungen und Aquarelle von Charlotte betrachten dürfen, in denen das junge Mädchen ihr Bengalen darstellte, und er hatte sich mit Eochaid angefreundet, seinem neuen vierbeinigen Gefährten. Und seit er für sein 33. Regiment neue, strenge Verhaltensmaßregeln festgeschrieben hatte, verkürzte sich die Krankenliste mit traumhafter Geschwindigkeit.
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