Kurt begann, hinter Frau Schmidts Rücken schnell auf und ab zu gehen. Sie drehte sich wieder um und betrachtete die Kalender auf dem Tisch vor ihr. Lauter Mini-Tagebücher. Ein ganzes Leben, in wenigen Sätzen zusammengefasst.
Mein Leben, dachte Frau Schmidt und hatte mit einem Mal das Bedürfnis, die Bücher in ihren Armen zu sammeln und aus diesem Zimmer zu tragen, damit ihr Mann, der sich wie ein Verrückter aufführte, sie nicht in seine Finger bekäme. Aber natürlich hatte er das schon längst getan.
„Du hast nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich nicht deine erste Wahl war. Und ich gebe gern zu, dass ich dich nur genommen habe, weil es keine Alternativen gab. Aber ich hätte doch ein bisschen mehr Respekt von dir erwartet“, ereiferte sich Kurt.
„Du blätterst durch meine Tagebücher und erzählst mir etwas von mangelndem Respekt?“, entfuhr es Frau Schmidt und sie warf ihm einen bitterbösen Blick über die Schulter hinweg zu.
Kurt ließ sich nicht beirren.
„Du verhöhnst und verspottest mich. Schon ein ganzes Leben lang.“
„Was ist überhaupt in dich gefahren?“, schrie Frau Schmidt und erhob sich so schnell und unkontrolliert, dass ihr Stuhl umkippte.
„Schlag den 10. Juli auf. In jedem einzelnen Band. Da steht es Schwarz auf Weiß. Da steht, dass du mich betrügst. Und dich selbst betrügst du noch viel länger. Fast dein ganzes Leben lang.“
Frau Schmidt konnte nicht aufhören, Kurt voller Zorn und Abscheu anzublicken. Sie musste die Einträge in den Kalendern nicht nachlesen. Sie wusste nur allzu gut, was dort stand.
In den ersten Jahren hatte sie Sätze wie „Es geht nicht ohne dich“ geschrieben, dann: „Es wird einfach nicht besser“ und schließlich: „Ich will niemand anderen lieben“. Der 10.7.1957 war der schlimmste Tag in Frau Schmidts Leben gewesen. An diesem Tag hatte es laut geknackt, ein Genick war entzwei gebrochen wie ein kleiner Hühnerknochen und mit ihm waren all ihre Träume gestorben, die romantischen Vorstellungen von der Zukunft eines 14-jährigen Mädchens, das sich Liebe wünschte. Einfach so. Manchmal dauerte es nur einen Wimpernschlag und schon war ein komplettes Leben kaputt.
Frau Schmidts Mund war trocken.
„Ich dachte, zwischen uns beiden hätte es eine Art Abkommen gegeben“, bemerkte sie tonlos.
„Ein Abkommen? Was denn für ein Abkommen? Du hast nie mit mir geredet, nie!“
Jetzt brüllte Kurt.
„All die Jahre habe ich gegen einen Geist angekämpft! Natürlich kann ich es nicht mit einem Geist aufnehmen. Ich habe gedacht, du würdest schon irgendwann drüber hinwegkommen. Und dann wirfst du den Ehering fort und ich finde das da !“
Kurt zeigte erneut auf die Kalender auf dem Esstisch.
Frau Schmidt entgegnete:
„Ich habe ihn nicht weggeworfen, ich habe ihn verloren.“
„Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass das besser ist, oder?“, schrie Kurt.
Frau Schmidt verstummte. Er hatte recht. Eigentlich war es sogar noch schlimmer.
„Und was machen wir jetzt?“
Kurt hob den umgefallenen Stuhl vom Boden auf und ging in den Flur hinaus, ohne Frau Schmidt anzusehen.
„Nichts“, rief er im Hinausgehen, „genau wie all die Jahre zuvor.“
Die Wohnungstür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss.
Es dauerte eine Weile, bis Frau Schmidt wieder klar denken konnte. Zuerst hatte sie nur ein hohes Piepen in ihrem linken Ohr vernommen und gedacht, dass sie jeden Moment einen Hörsturz oder etwas Ähnliches erleiden würde. Aber nichts dergleichen geschah. Das Piepen wurde langsam leiser und verschwand schließlich ganz. Dann hatte sie sich einfach nur noch fürchterlich einsam gefühlt.
Frau Schmidt setzte sich wieder an den Tisch. Mit müden Augen suchte sie nach einem ganz bestimmten Einband. Es dauerte nicht lang, da hatte sie das blau-weiß gestreifte Büchlein gefunden. Es lag versteckt hinter zwei anderen Kalenderstapeln, aber Frau Schmidt war sich sicher, dass Kurt diesen Band in den Händen gehalten und aufgeschlagen hatte. Auf der ersten Seite stand in großer schnörkeliger Schrift die Jahreszahl 1957.
Mit zitternden Händen suchte Frau Schmidt den 10. Juli. Als sie die richtige Stelle gefunden hatte, löste sich ein zerknittertes Blatt Papier aus den Seiten und fiel auf die Tischdecke. Frau Schmidt stockte der Atem.
„Das Bild, das Bild, das Bild!“, schrie es in ihrem Kopf.
Wie hatte sie das nur vergessen können! Sie schluchzte schon, bevor sie das Blatt auseinander gefaltet hatte.
Das war ganz sicher nicht mehr ihr Ebenbild.
Als Kurt zurückkehrte, hatte Frau Schmidt die Kalender wieder zusammengesammelt und in ihrem Schrank verstaut. Sie hatte ihn anschließend abgeschlossen und ein anderes Versteck für den Schlüssel gefunden. Sie hatte eine neue Tischdecke aufgelegt, gesaugt und Rinderfilets aus dem Kühlschrank geholt. Sie hatte Kartoffeln geschält und einen Salatkopf gewaschen. Nichts würde geschehen, hatte er gesagt. Dann konnte sie auch so tun, als wenn nichts geschehen wäre. Alles würde so weitergehen wie bisher.
Umso mehr wunderte sie sich über Kurts Frage. Er kam in die Küche und sah abgekämpft aus. Beinahe hätte Frau Schmidt ihn gefragt, ob er ein Stück gerannt war, dabei wusste sie ja, dass er das mit seinem Rücken gar nicht mehr konnte.
Kurt strich sich eine verschwitzte, graue Haarsträhne aus dem Gesicht und fragte:
„Willst du dich scheiden lassen?“
Frau Schmidt sah Kurt nicht an, als sie antwortete. Sie setzte einen Kessel mit Wasser auf die Schnellkochplatte und stellte die höchste Hitzestufe ein.
„Nein. Willst du das?“
„Nein“, antwortete er bestimmt.
„Bis dass der Tod uns scheidet“, sagte Frau Schmidt und wischte ihre Hände an der Schürze ab.
„Ja, genau so“, bekräftigte Kurt.
Und jetzt ist es also soweit, denkt Frau Schmidt.
Sie hat sich wieder auf den Stuhl gesetzt und betrachtet das aufgeschnittene Brötchen auf ihrem Teller. Sie hat zuerst den Schmierkäse auf den Hälften verteilt und dann den Schinken darauf gelegt. Nach zwei Bissen hat sie die eine Hälfte aber bereits wieder auf den Teller getan. Heute schmeckt doch nicht alles gut.
Sie wirft einen Blick auf die Kuckucksuhr.
Oh oh, denkt sie, jetzt wird es wirklich Zeit.
Sie steht auf und klopft sich die Krümel vom Rock. Dabei fällt ihr Blick auf ihre dünnen Beine, die mittlerweile von hässlichen Krampfadern durchzogen sind. Dann geht sie langsam um den Tisch herum in den Flur, ohne einen weiteren Blick auf die Leiche zu werfen.
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