„Feigheit ist unsexy“, hatte Arne mir gegenüber einmal bemerkt.
Ich glaube, ich weiß, was er meint.
Jedenfalls hat mein Vater angefangen, sich mit Männern zu treffen. Er ist nicht mehr so oft schlecht gelaunt, schämt sich aber immer noch ein bisschen dafür, dass er jetzt keine Hete mehr ist. Ich versuche immer, ihm klarzumachen, dass er nicht so streng mit sich sein soll und dass Schwulsein etwas ganz Normales ist, aber ich erwische mich dabei, dass ich selbst nicht ganz daran glaube. Eigentlich finde ich es eigenartig, einen schwulen Vater zu haben. Es ist so, als wenn jemand, den man zu kennen glaubte, plötzlich sagt:
„Du, ich heiße gar nicht Tina, sondern Carmen und bin auch nicht aus Bochum, sondern aus Celle. Meine Eltern sind aus Peru, nicht aus Solingen und mein Lieblingsessen ist nicht Lasagne. Ich hasse Lasagne.“
So in der Art ist es, aber noch viel, viel verwirrender.
30.9.2003
Während Frau Schmidt die zweite Tasse Kaffee mit ruhiger Hand an ihre trockenen Lippen führt, überlegt sie, wie weiter vorzugehen ist. Soll sie den Krankenwagen jetzt gleich rufen oder noch ein wenig warten?
Einfach nur, um ganz sicher zu sein, denkt sie.
Der Minutenzeiger schiebt sich langsam vor und knackt dabei. Gleich ist es halb elf. Frau Schmidt überlegt, wie lange sie jetzt schon so da sitzt. Eigentlich kann es nicht mehr als eine Stunde sein, aber es fühlt sich viel, viel länger an. Die Enge in ihrem Hals, die sie bis eben noch gespürt hat, ist verschwunden. Sie schluckt noch einmal. Ja, alles wieder frei. Dann fällt ihr Blick auf den gedeckten Frühstückstisch. Sie hat ihr Brötchen nicht einmal angerührt. Es liegt auf dem Teller und sieht irgendwie traurig aus.
„Na, komm“, sagt Frau Schmidt, „Dich ess ich noch, bevor wir den Notarzt rufen.“
Frau Schmidt fragt sich, ob das jetzt immer so sein wird: dass sie sich vor lauter Einsamkeit mit den Lebensmitteln unterhält.
Sie schneidet das Brötchen auf und lässt sich bei der Auswahl des Aufschnitts viel Zeit, dabei hat sie eigentlich kaum Auswahl: Es gibt nur gekochten Schinken und Schmierkäse. Frau Schmidt überlegt hin und her, dann entscheidet sie sich dazu, einfach beides zu nehmen, auch wenn es nicht zusammenpasst.
Heute schmeckt alles gut.
Der Minutenzeiger schiebt sich auf die 12 vor und der dunkelbraune Holzkuckuck springt aus der Uhr. Er gibt schon lange kein Geräusch mehr von sich, aber die Federn quietschen. Gedankenverloren stellt Frau Schmidt fest, wie spät es ist. Sie hätte schwören können, dass es gerade noch halb elf war.
„Vielleicht verliere ich ja meinen Verstand“, sagt sie laut in den stillen Raum hinein.
Es ist, als würden der dicke, alte Teppichboden und die Möbel ihrer Stimme alle Kraft rauben, sodass nur ein kleines Piepsen herauskommt. Wie bei einer Maus. Aber mit einem Blick auf die leblosen Beine stellt Frau Schmidt sachlich fest, dass die Zeiten ihres Mausdaseins endgültig gezählt sind. Sie rutscht mit dem Stuhl zurück, tupft ihre blutleeren Lippen mit einer bestickten Stoffserviette ab und steht mit einem Ruck auf. Sie fühlt sich eigenartig beschwingt, als sie um den Tisch herumgeht, um sich den kuriosen Anblick genau einzuprägen.
Da liegt er also.
Seine toten Beine hängen über den Rand der Sitzfläche seines Stuhls, mit dem er, einfach so und urplötzlich, nach hinten übergekippt ist. Sein linker Fuß steckt sogar noch in seinem grauen Filzpantoffel, der andere ist mit der Sohle nach oben unter den Tisch gefallen. Das Brötchen, auf dem Kurt noch vor zwei Stunden herumgekaut hat, ist ihm beim Sturz aus der Hand geglitten. Es liegt neben dem rechten Pantoffel, und zwar mit der beschmierten Seite nach oben. Das freut Frau Schmidt. Die Scheibe gekochter Schinken liegt allerdings auf Kurts Brust. Das sieht ganz besonders eigenartig aus. Man könnte meinen, jemand hätte ihn damit beworfen, und Frau Schmidt hat schon mehrmals darüber nachgedacht, den Schinken zu entfernen, damit niemand auf die Idee kommen könnte, sie habe ihren verstorbenen Mann mit einer Scheibe Fleisch garniert. Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, ihn mit irgendetwas zu bewerfen. Schon gar nicht mit Lebensmitteln.
Frau Schmidts Blick fällt auf Kurts starre, graue Hände. Sie liegen neben seinem massigen Oberkörper auf dem Teppichboden, die Handflächen zeigen nach oben. Sie sind rau und schwielig. Frau Schmidt kann sich nicht daran erinnern, dass sie jemals anders ausgesehen haben. Kurt trägt den Ehering am Zeigefinger der rechten Hand, weil er sich das oberste Glied des Ringfingers als junger Mann mit der Säge abgeschnitten hat. Er war Schreiner gewesen. Von ihm stammte der Tisch, an dem sie bis eben zusammen gefrühstückt hatten, und er hatte die vier Esszimmerstühle gefertigt, von denen jetzt einer auf dem Boden liegt. Das Stummelchen seines Ringfingers sieht ganz besonders grau aus und sein Anblick ruft in Frau Schmidt eine kurze, aber heftige Reaktion hervor: Sie holt tief Luft und schluchzt.
So viele Jahre, denkt sie.
Dann versteift sich ihr Nacken und sie kehrt wieder in jene kalte, starre Haltung zurück.
Wie viele Jahre waren es eigentlich wirklich, fragt sie sich und blinzelt.
Schließlich kommt es immer auf die Zählweise an. Zählt man nur die Jahre, in denen man glücklich zusammen gewesen ist? Geht man von dem Tag aus, an dem man einander zum ersten Mal gesehen hat? Oder beginnt die Zeitrechnung einer Beziehung in dem Moment, in dem man begreift, dass man sich verliebt hat? Das wäre schlecht, denkt Frau Schmidt. Verliebt war sie in ihrem ganzen Leben nur ein einziges Mal gewesen. Aber nicht in Kurt.
Kurts jüngerer Bruder hieß Axel.
Axel und Frau Schmidt, deren Nachname damals noch Kohlhaas lautete, waren Nachbarskinder und in demselben Alter. Sie gingen jeden Morgen gemeinsam zur Schule. Unterwegs drückte Frau Schmidt, die von ihren Freundinnen Henni gerufen wurde, Axel immer einen Bleistift in die Hand. Vor der Schule trennten sich ihre Wege: Die Jungs hatten in einem anderen Gebäude Unterricht als die Mädchen und durften auch auf dem Schulhof nicht miteinander spielen. Dafür unterhielten sich Axel und Henni immer auf dem Nachhauseweg. Morgens nicht. Da war Axel immer noch viel zu müde und höchstens in der Lage, nach ein paar Steinchen zu treten. Und dann war da eben noch dieses Bleistiftritual.
Henni hätte ihm den Stift gern geschenkt, aber ihre Mutter achtete sorgsam darauf, dass sie all ihre Schulsachen wieder mit nach Hause brachte. Es war ihr wichtig, dass Henriettchen gut auf Bleistifte, Papier und Hefte aufpasste. Also spitzte Henni den Bleistift jeden Nachmittag, wenn sie ihre Hausaufgaben machte, um ihn am nächsten Morgen Axel zu überlassen. Er schämte und freute sich und verlor nie ein Wort darüber, dass sich Henni um ihn kümmerte.
Sie hatte damals schon das Gefühl, dass er sie nicht wirklich ernst nahm.
Henni war eine gute Schülerin. Das Lernen bereitete ihr Freude und sie brachte gute Noten nach Hause. Bei Axel war das etwas anders. Er erzählte manchmal, wie schwer es ihm fiel, dem Unterricht zu folgen. Ihr war schön öfter aufgefallen, dass Axel gern die Beine baumeln ließ oder mit den Knien auf und ab wippte, wenn sie am Nachmittag auf dem Weidezaun hockten und Grashalme kauten. Das machte Henni immer ganz rasend.
„Wenn der Herr Walter das sieht, guckt er mich auch immer ganz streng an. Dann höre ich sofort auf, aber ein paar Minuten später fangen die Beine einfach wieder an zu wippen. Das ist wie Zauberei“, erklärte Axel grinsend und präsentierte seine große Zahnlücke.
Manchmal erzählte er auch andere Sachen. Zum Beispiel, dass Herr Walter ihn hin und wieder dabei ertappte, wie er stundenlang aus dem Fenster starrte. Der Lehrer ermahnte ihn dann immer und sagte:
„Axel, du Träumer, vom Glotzen wird man nicht schlau.“
Читать дальше