„Und was hast du da gemacht?“, fragte Henni ängstlich.
„Na, ich habe mich kerzengerade hingestellt und gesagt: Recht haben Sie, Herr Walter. Und dann hat der Herr Walter geschmunzelt.“
Niemand konnte Axel wirklich böse sein.
Axel konnte gut zeichnen. Er malte gar nichts Bestimmtes, sondern kritzelte mehr so vor sich hin. Manchmal entstanden aus diesen Kritzeleien die abenteuerlichsten Figuren. Sie hatten mehrere Köpfe und konnten Feuer spucken. Einmal saßen sie unten im Heuschober auf dem Boden und Axel malte eine scheußliche Fratze mit funkelnden Augen und einem weit aufgerissenen Maul. Es war ein Höllentier. Henni fuhr zusammen, als sie es sah.
„Axel“, rief sie aus, „das ist ja scheußlich!“
Axel kicherte und enthüllte die riesige Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen. Dann verstaute er das Blatt Papier, das ihm Hans geliehen hatte, in seiner Tasche.
„Du bist ja ein Angsthase“, kicherte er weiter und Henni ärgerte sich so sehr, wie sie sich noch nie in ihrem ganzen Leben geärgert hatte. Sie zog eine Schnute und drehte den Kopf zur Seite, damit sie Axel nicht mehr angucken musste.
Aber dann hörte sie, wie Axel das Papier wieder auseinanderfaltete und zu kritzeln begann. Die Bleistiftmine fuhr zunächst mit einem ganz leichten Kratzen über das aufgeraute Papier, vollführte jedoch alsbald dem Klang nach die heftigsten Manöver. Henni hörte lange Striche, bei denen der Stift fest aufgedrückt wurde, und dann das leise, flächige Hin- und Herhuschen von Schraffierungen. Sie platzte fast vor Neugier, aber der Stolz war stärker: Sie starrte weiter stur in die andere Richtung.
Schließlich schob Axel das zerknitterte Blatt Papier über den Boden zu Henni hinüber. Als ihr Blick auf das Motiv fiel, blieb ihr der Mund vor Überraschung offen stehen. Sie ergriff das Bild mit beiden Händen und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Das bist du“, flüsterte Axel, aber das war vollkommen überflüssig.
Henni war, als würde sie in einen Spiegel blicken.
Wenn man noch ein kleines Kind ist, kann man durchaus verliebt sein, man weiß bloß nicht, dass man es ist. Henni hatte keinen blassen Schimmer, was mit ihr los war, als sie in den folgenden Tagen abwesend durch die Gegend stolperte, Teller und Tassen beim Abtrocknen fallen ließ und auf dem Weg in den Ort in jede einzelne Pfütze und in jeden Kuhfladen hineintrat, ohne es auch nur zu bemerken. Ihre Mutter machte sich Sorgen:
„Henni“, sagte sie, „du bist doch nicht etwa krank?“
Eine Cousine war viele Jahre zuvor an der Schwindsucht gestorben und Hennis Mutter suchte andauernd bei ihren Kindern nach eventuellen Symptomen. Manchmal erfand sie sie einfach.
Henni zuckte nur die Achseln und blickte ihre Mutter gleichgültig an. Sie kaute lustlos auf einer Scheibe Brot herum, ließ den Kopf hängen oder blickte aus dem Fenster. Ihre Augen hielten sich manchmal an dem alten Apfelbaum mit dem gespalteten Stamm fest, aber sie sah ihn nicht wirklich. Wenn sie zuhause war, hatte sie keine Energie und fühlte sich wie eine leere Hülle ohne Kern.
Sie lebte für die kurzen Momente, in denen sie mit Axel allein war.
Als Axel und Henni 13 Jahre alt waren, schrieb er ihr den ersten und einzigen Liebesbrief ihres Lebens. Er bestand aus zwei Sätzen und lautete wie folgt:
„Ich bin so froh, dass es dich gibt. Alles andere ist schlimm, aber wenn du da bist, ist nichts mehr schlimm.“
Axel war kein Dichter, aber wenn Frau Schmidt sich seinen Brief ansieht, kommen ihr heute noch die Tränen.
Das Einzige, was Frau Schmidt von ihrer ersten Begegnung mit Kurt noch in Erinnerung geblieben ist, ist sein Geruch: Kurts Arme rochen warm und erdig. Erst später verstand sie, dass ihm der Duft nach Holz und Sägespänen angehaftet hatte, weil er gerade aus der Werkstatt gekommen war.
Kurt war sieben Jahre älter als Axel. Er war ein Baum von einem Mann und hatte ein großes, rotes Gesicht mit dicken Backen und vollen Lippen. Er war nicht hässlich, aber auch nicht schön. Henni fand, dass er gesund aussah und irgendwie zum Anbeißen, fast so wie ein Apfel. Das taten damals nicht viele junge Männer.
Dass sie die Gelegenheit hatte, an Kurts Armen zu riechen, war einem dummen Missgeschick geschuldet: Henni stürzte nämlich mit dem Rad. Genau genommen stürzte sie mit Axels Rad. Und Axel schüttete sich aus vor Lachen, während Henni unter dem Rahmen im Matsch lag und sich nicht rühren konnte. Ein stechender Schmerz machte sich in ihrer Hüfte breit.
Irgendwann konnte sie ihre Lunge mit ausreichend Luft füllen, um zu schreien:
„Axel, hilf mir!“
Axels Lachen schien plötzlich wie festgefroren. Er hielt mitten in der Bewegung inne und erstarrte für einen winzigen Augenblick. Dann eilte er zu ihr und sie konnte sehen, dass er Angst hatte.
Henni hatte ihm ihr Taschengeld für den nächsten Monat angeboten, falls er ihr beibringen würde, wie sie auf dem Rad das Gleichgewicht halten konnte. Jetzt lag sie also da und konnte sich nicht mehr rühren.
„Was ist denn mit dir?“, rief Axel aufgelöst, nachdem er das Rad von Hennis Körper weggezogen hatte.
Seine großen, blauen Augen waren weit aufgerissen und sein dürrer Hühnerhals war mit roten Flecken übersät.
„Ich kann meine Beine nicht mehr spüren“, antwortete Henni kläglich.
Von der Hüfte abwärts hatte sie keinerlei Gefühl mehr in den Beinen.
„Hol Hilfe, Axel!“, rief sie dann und Axel stürmte wie von Sinnen los.
Es dauerte nicht lang, da ertönten schwere Schritte, begleitet von dem hektischen Tapsen blanker Fußsohlen. Im Sommer trug Axel fast nie Schuhe.
„Ich hab nix gemacht, ehrlich!“, beteuerte Axel aufgelöst.
Sein Bruder Kurt antwortete mit einem wenig überzeugten Brummen. Er kniete neben Henni nieder und sie blickte in sein großes rotes Gesicht.
„Du spürst die Beine nicht mehr?“, fragte der große Mann.
Natürlich war er mit seinen 21 Jahren eigentlich noch jung, aber Henni kam er steinalt vor. Seine Haut war großporig und verschwitzt und auf der Nase hatte er eine ganze Reihe Mitesser. Seine Statur erinnerte sie an ihren Vater und an ihren Onkel und sie traute sich nicht, ihren Mund aufzumachen, weil sie so viel Respekt vor ihm hatte. Deshalb nickte sie nur schwach.
Kurt schien kurz zu überlegen, dann seufzte er.
„Dann werde ich dich wohl zum Doktor tragen müssen.“
Er hob Henni auf, als wenn sie eine Feder wäre. Auf dem gesamten Weg bis zum Haus des Doktors sagten weder er noch sie noch Axel auch nur ein einziges Wort.
Axel starb an einem sonnigen Sonntagmorgen. Es war ein fürchterlicher Unfall. Er war deshalb so fürchterlich, weil es keinen Schuldigen gab. Man konnte niemanden verantwortlich machen und auf niemanden außer dem lieben Gott wütend sein. In der Nacht zuvor hatte ein Gewitter getobt und eine kräftige Windböe hatte ein paar Schindeln vom Dach gerissen. Da Axel ein Fliegengewicht und sehr behände war, hatte er sich sofort bereiterklärt, aufs Dach zu klettern und neue Schindeln aufzulegen. Kurt erzählte Henni später, dass er ihm noch zugerufen hatte, gut aufzupassen. Die Dachpfannen waren nass. Viele von ihnen waren schon sehr alt und mit glitschigem Moos überzogen. Axel hatte Kurt bloß zugegrinst und bemerkt, dass er ein ziemlicher Hosenscheißer wäre, und sie hatten gelacht, als Axels dürre, schmutzige Finger plötzlich den Halt verloren. Er hatte nicht einmal geschrien, als er hintenüber vom Dach stürzte und reglos auf dem Rücken liegen blieb. Das gespenstische Knacken, meinte Kurt, würde er niemals vergessen.
Die Beerdigung war so, wie alle Beerdigungen von Kindern waren: unendlich traurig und in einer Hoffnungslosigkeit getränkt, die einen in die Tiefe zieht. Axels und Kurts Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch am Grab und es regnete in Strömen, als der Sarg in das Loch in der Erde hinabgelassen wurde. Als Henni eine Handvoll Matsch auf den kleinen Sarg fallen ließ, den Kurt für seinen Bruder gezimmert hatte, schwor sie sich, nie wieder jemanden zu lieben.
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