Wir treten aus dem Bahnhofsgebäude ins Freie. Wie immer, wenn ich ihn am Hauptbahnhof abhole, weist mich Herr Blümchen beim ersten Ansichtigwerden großflächig im Gesicht Tätowierter und anderweitig vom Leben oder von Menschenhand Gezeichneter darauf hin, wie froh er doch ist, nicht mehr in der großen Stadt, sondern in der tiefsten Provinz zu wohnen.
»Bäähh«, tönt es aus ihm heraus, und dabei wabbeln seine fleischigen Wangen zum Zeichen seiner Intoleranz wie die hängenden Sabberlefzen einer Riesendogge.
Schweigend gehen wir zur Bushaltestelle.
»Ich hol uns was Trinkbares!«, sage ich.
»Gib mal dein Jahrhundertwerk her!«
Ich sehe Herrn Blümchen zweifelnd an. Er nickt mir zu. Ich krame einen Stapel ausgedruckter Romanseiten aus meinem Rucksack und reiche ihm ein Blatt.
»Lies erst mal das hier.«
»Willste mich verarschen?«
Herr Blümchen grapscht sich den ganzen Stoß, macht es sich mit einer Pobacke und ausgestrecktem Fuß auf seinem Rollkoffer bequem und beginnt mit der Lektüre. Ich gehe zum nächsten Imbiss. Vor dem Reingehen drehe ich mich um. Tatsächlich: Mein bester Freund sitzt da und liest meinen Text. Und guckt dabei kein bisschen angewidert. Ich lasse ihn lesen, bleibe dann mit den erworbenen Bierdosen hinter Herrn Blümchen stehen und sage nichts. Plötzlich beginnt der Fahrkartenautomat zu sprechen. Herr Blümchen schreckt auf.
»Wegen einer Demonstration in der Innenstadt verzögern sich die Abfahrtszeiten der Metrobuslinien 4, 5 und 6 sowie der Schnellbusse im gesamten Innenstadtbereich. Wir bitten um Ihr Verständnis.«
Also latschen Herr Blümchen und ich die Kirchenallee zurück. Vorbei an Imbisshallen mit weißen Plastikmöbeln davor und den wenig einladenden City-Hotels; vorbei am Deutschen Schauspielhaus in Richtung Lange Reihe.
»Wie findstes?«, frage ich.
»Berlin-Moabit, Remo Smash, Knete und das ›Glühwürmchen‹, der Übungsraum hinter den Klos im Ballhaus Tiergarten und die Kack-Achtziger, alles gut getroffen, Alter«, sagt Herr Blümchen und guckt gnädig. Er ist durstig, will aber seine Dose noch nicht aufreißen. Auf der anderen Straßenseite erblickt er »Max & Consorten« und stopft seine Bierbüchse in den Rollkoffer.
»Der Laden ist auch Kack-Achtziger«, maule ich, ahne aber, dass er jetzt da rein will. Ich kann diese Destillen mit abgehangenem Flower-Power-Ambiente, in denen die Zeit stehen geblieben ist, nicht mehr verknusen. Dass ich noch immer gegen Altfreaks aus den Siebzigern allergisch bin, macht mich nachdenklich. Als Teenager hatte ich ihre langen, hennarot gefärbten Matten, die hängenden Schultern und den schlurfenden Gang anfangs glühend bewundert, auch dass diese Menschen dauernd kifften und Dinge sagten, wie »Hey, Män, das is’ aba echt groovy, Alda«, konnte mich eine Zeit lang nicht abschrecken.
»Ich hab Brand wie ’ne Bergziege«, drängelt Herr Blümchen. Also gehen wir rüber ins »Max« am Spadenteich. Was für eine Wuselbartkneipe. Herr Blümchen humpelt in den Vorraum, seinen rollenden Koffer im Schlepptau, dessen Räder jetzt zu quietschen anfangen.
»Bergziege ist auch Kackachtziger.« Ich hasse die ganze verdammte Dekade wie die Pest, fast so schlimm wie 1975, aber das war ja bloß ein Jahr. Die Achtziger dagegen waren und werden immer das verlorene Jahrzehnt bleiben – mein verlorenes Jahrzehnt.
»Das Beste war Repo Man«, befindet Herr Blümchen, der es auch im Kino gerne etwas härter mag. Der dunkle Schankraum riecht trotz Rauchverbot nach alten Kippen, abgestandenem Bier und totgeschlagener Zeit.
Bis auf die gut aussehende Bedienung hinterm Tresen ist kein Mensch zu sehen. Wir setzen uns an einen Tisch am Fenster. Herr Blümchen ordert zwei Halbe.
»Ich weiß bis heute nicht, wie wir den ganzen Achtziger-Schwubelkram ertragen konnten: ›Kristallnaaach‹, ›Wir wollen Sonne statt Reagan‹, Friedensbewegung, Georg Danzer, Baldur Springmann und wie die ganzen Bots und Baps so hießen«, sagt Herr Blümchen und seufzt.
Ich rufe »Aufstehn«, erhebe mich und gehe zum Klo. In der Mitte der Kneipe bleibe ich stehen und singe zu Herrn Blümchen rüber: »Was wolle wir dringe siebe Dage lang, was wolle wir dringe?«
Und Herr Blümchen kräht zurück: »Weiches Wasser bricht den Stein!«
Am Urinal stehend frage ich mich, ob es je ein dreißigjähriges Remo-Smash-Treffen geben wird, wenn ich demnächst ein Kind kriege. Mich überkommt heftiger Durst.
»Euer Bier kommt gleich«, schallt es von der Theke. Die Frau ist viel jünger als wir, so um die zwanzig plus. Gnade der späten Geburt. Die trüben Achtziger müssen an ihr folgenlos vorübergegangen sein. Herr Blümchen wirft einen begehrlichen Blick auf sie oder die beiden Blonden auf ihrem Tablett.
»Warum hast du eigentlich so ’n Schiss, dass du bei mir singen musst?«, frage ich Herrn Blümchen, als ich mich wieder setze.
»Ich hatte die Tage genug Gesang. Aber lass man, ist mir peinlich.«
»Los, Blümchen, mir kannstes doch sagen.«
»Schieb noch mal ’n paar Seiten zu lesen rüber«, mault er stattdessen. Ich hole einen weiteren Stoß vollgetippter Blätter aus dem Rucksack und lege sie vor mich auf den Tisch. Herr Blümchen schnappt die paar Seiten, beginnt zu lesen, und ich denke an all die unbeschwerten Tage damals mit meinem besten Freund und wie sich die Zeiten geändert haben. Ich stürze mein Bier runter.
Herr Blümchen streckt mir die Hand entgegen.
»Gib her! Alles, was du hast«, sagt er. Ich reiche ihm die restlichen Seiten, die er zu den Bierdosen in die Außentasche seines Koffers schiebt. Herr Blümchen trinkt aus, zückt sein Portemonnaie und fixiert mich.
»Wusstest du, dass ich demnächst 500000 Euro Schulden habe?«
»’ne halbe Million, warum das denn?«, frage ich entsetzt.
»Ich bau ’nen Back-Stopp; weißt du, ist wie ’ne Waschstraße, nur dass man hinten mit ’ner Tüte Brötchen wieder rausfährt.«
»Drive-in für Backwaren finde ich gut, wo man doch heutzutage fast nirgends so was Exotisches wie Brötchen zu kaufen kriegt«, argwöhne ich.
»Das genau ist das Problem. Das Grundstück liegt neben einer Tankstelle, und die verkaufen seit letzter Woche auch Brötchen, Croissants; was du willst. Und weißte, was ich bin?«
»Gekniffen?«
»Voll, Alter.«
»Kannste den Banken nicht sagen, nee, danke, ich will eure Fünfhunderttausend jetzt nicht mehr? Ich hab’s mir anders überlegt?«
Herr Blümchen schüttelt den Kopf.
»Nee, Alter, das zieh ich durch.«
So ist er, mein bester Freund. Starrköpfig und unbelehrbar. Ich überlege, wie viele Millionen Brötchen er backen muss, um von den Schulden wieder runterzukommen. Herr Blümchen wird unruhig.
»Was steht denn heute an auf Kampnagel?«, ranzt er.
»Blaskonzert.«
»Blaskonzert ist immer gut«, erwidert Herr Blümchen, »apropos, wie läuft’s denn bei dir und Ada?«
»Na ja. Es gibt da schon Neuigkeiten…«
»Vögelt ihr ordentlich?«
»Wir leben eher abstinent.«
»Hört sich fast so an wie vor einem Jahr bei deiner Ex Judith und diesem Stephan, als sie schwanger geworden ist.«
Ich schlucke. Der Vergleich trifft mich mit Wucht. Ich hatte Herrn Blümchen erzählt, wie froh ich damals war, dass dieser Schwangerschaftskelch an mir vorübergegangen und direkt an Stephan übergeben worden war. Und jetzt? Habe ich mit Ada denselben Salat.
»Ab fünfunddreißig wollen die Weiber alle nur das eine: nämlich Nachwuchs.«
»Du hast gut reden«, sage ich, denn Herr Blümchen ist dank einer Hoden-OP vor einigen Jahren eine taube Nuss.
»Denk dran, Toni. Alles Schlampen außer Mutti. Und Punk rules.«
Für mich steht jetzt felsenfest, ich werde weder Herrn Blümchen noch sonst jemandem an diesem Wochenende von meiner Vaterschaft erzählen. Altpunk, der sein Leben nicht im Griff hat, kriegt Kind, tolle Wurst, wie soll man da noch ausgelassen feiern? Holgi muss ich allerdings noch nachträglich zu absolutem Stillschweigen vergattern. Als ich das mit mir geklärt und für uns beide bezahlt habe, schlendern Herr Blümchen und ich die Lange Reihe runter zur nächsten Bushaltestelle. Von meinem jetzt permanent schmerzenden Schwanz sage ich sicherheitshalber auch nichts. Der 6er-Bus zum Borgweg rauscht an uns vorbei, aber hinterherrennen wollen und können wir nicht. Stattdessen schauen wir bei Sardo rein. Das liegt auf dem Weg, und ich kann sowieso an keinem Plattenladen vorbeigehen.
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