Andere Träume entführten ihn in ferne asiatische Regionen, wie die fein geschnitzte indonesische Tanzmaske. Oder er erlebte ein Märchen aus einer früheren Zeit, in dem ein Käuzchen den Menschen half, indem es sich verwandeln und mit den Menschen reden konnte. Ein anderes mal verschlug es ihn im Traum auf eine Insel mit einer großen Höhle und in der Höhle lebten noch Dinosaurier, die schon lange ausgestorben waren …
Und wenn der Junge dann wieder erwachte, sich ganz verstört die Augen rieb und auf seine Armbanduhr schaute, waren vielleicht gerade mal ein oder zwei Stunden vergangen … und er hatte alles so tief miterlebt, als wenn es seine eigene Vergangenheit gewesen wäre.
Das ist jetzt schon beinahe ein Jahr her, seit er den ersten Traum hier oben geträumt hatte. Und, wie gesagt, so oft es seine Zeit zuließ und so oft er sicher sein konnte, dass niemand sein Geheimnis entdecken konnte, verschwand Jan-Moritz hinter der inzwischen auch gar nicht mehr knarrenden Dachbodentür. Da ihn das Knarren, auch der dreizehn Stufen, hätte verraten können, hatte Jan-Moritz schon bald heimlich das Ölkännchen aus der Werkstatt „entwendet“ und hatte alles sorgsam eingeölt. Das Ölkännchen war seitdem nie wieder aufgetaucht und oft hatte sein Vater danach gesucht. Aber Jan-Moritz behielt es sicherheitshalber dort oben auf dem Dachboden, falls doch mal nachgeölt werden musste …
Beim nächsten Besuch dort oben auf dem Dachboden war alles irgendwie anders: Jan-Moritz hatte noch einmal das Steuerrad aus der Truhe genommen, das ihn in die abenteuerlichen Träume um die verschollene Insel und den Dinosaurier entführt hatte, einfach, um es sich noch einmal anzusehen.
Als der Junge versuchte, das Steuerrad wieder hinten in der Truhe zu verstauen, klemmte etwas oder lag irgendetwas im Wege.
„Da muss ich wohl erst was herausnehmen und dann geht es vielleicht besser“, überlegte Jan-Moritz und nahm wahllos das erstbeste heraus, was er greifen konnte. Es war ein Holzkistchen, schon ziemlich verblichen und abgeschabt.
In den Deckel waren fremdländische Zeichen eingeritzt oder eingebrannt, die Jan-Moritz nicht kannte. Er klappte den Deckel auf, der seitlich nur locker mit einem Schieberiegel eingehakt war. Eine große bauchige Flasche aus braunem Glas kam zum Vorschein, die noch halbvoll zu sein schien, jedenfalls schwappte in der Flasche eine dunkelbraune Flüssigkeit, als Jan-Moritz die Buddel herausnahm. „Eine Rumflasche, die Rumflasche eines Piraten“, dachte der Junge.
Der Korken saß fest im Flaschenhals, sodass es eigentlich verwunderlich war, dass die Flasche schon halb geleert war. Jan-Moritz versuchte sie zu entkorken, weil er mal daran riechen wollte, vielleicht auch probieren, aber der Korken saß derart fest, dass er es nicht schaffte, ihn mit dem Korkenzieher seines Taschenmessers herauszuziehen. „Ich werde mir das nächste Mal Papas Korkenzieher mitbringen“, überlegte der Junge, „der hat so `ne Art Hebelmechanik, die könnte helfen“, und wollte die Flasche schon wieder zurücklegen in das Holzgestell in dem Kistchen,
als ihm ein winziges Stückchen Papier auffiel, das unter der Samtbespannung an einer Ecke der Flaschenkiste hervorblitzte. Das ganze Kistchen war innen mit rotem Samt ausgeschlagen, aber an einer Ecke hatte sich der Stoff etwas gelöst. Jan-Moritz zog an dem Schnipsel. Ritsch! Pech, das hatte aber nicht viel genützt, außer, dass er nun eine kleine Ecke Papier in der Hand hatte.
Es war altes brüchiges Papier, das sich ein bisschen so wie das Butterbrotpapier anfühlte, in das seine Mutter immer die Picknickbrote einwickelte, wenn die Familie unterwegs war.
„Ärgerlich“, dachte Jan-Moritz, „jetzt habe ich das Papier auch noch kaputtgemacht.“ Aber an den Rest kam er nun garnicht mehr heran, auch nicht mit der kurzen Klinge seines Taschenmessers. Das Papier steckte zu tief und zu fest unter dem Stoff und Jan-Moritz wollte keinesfalls riskieren, noch mehr davon kaputtzumachen, wer weiß, vielleicht war das ja ein wichtiges altes Dokument!?
„Also muss ich außer dem Korkenzieher, auch ein Messer mit einer längeren und schärferen Klinge mitbringen beim nächsten Mal, wenn ich hier hochkomme“, überlegte der Junge, „wäre doch gelacht, wenn dieses Problem nicht zu lösen wäre!“
Jan-Moritz kramte noch ein bisschen weiter in der Kiste und nahm noch ein paar andere Gegenstände heraus, aber irgendwie interessierten ihn die anderen Sachen im Moment nicht sonderlich, viel interessanter war, was unter dem Samtstoff in der Holzkiste verborgen lag …
Jan-Moritz beschloss kurzerhand, trotz seiner großen Neugierde, das Geheimnis hier oben für heute sich selbst zu überlassen und die Truhe wieder sorgsam zu verschließen. Gleich am nächsten Tag wollte er wiederkommen und Korkenzieher und Messer mitbringen.
Viel los waran dem Nachmittag nicht mehr unten im Haus,
seine Mama hatte mit Vorbereitungen für eine Wochenendeinladung zu tun und kochte Verschiedenes, was dann Salate werden sollten und Häppchen und ähnliche Kleinigkeiten, die ihr immer prima gelingen.
„Da gibt’s wieder heimlich was zu Naschen,“ freute sich Jan-Moritz schon, „und wenn ich die Lücken auf den Anrichteplatten dann immer wieder geschickt mit Petersilie oder Salat oder irgendwelchen anderen Dekorationen schließe, merkt Mama das garnicht, sonst wird sie immer so ärgerlich.“
Da Mama also damit beschäftigt war und Papa draußen am Schuppen beim Holzhacken, konnte sich Jan-Moritz in Ruhe in der Werkstatt ein geeignetes Messer aussuchen und einen Korkenzieher aus der unteren Schublade im Esszimmerbuffet. Beides trug er vorsichtig und heimlich in sein Zimmer und verwahrte sie dort bis zum nächsten Morgen hinter seiner Modellautosammlung, damit nicht vielleicht sein Schwesterchen darüber 'stolperte' und meinte, damit spielen zu können.
Im gleichen Moment klopfte es hart ans Fenster. Jan-Moritz erschrak heftig und zuckte zusammen! Im nächsten Moment dann allerdings, als es zum zweiten Mal klopfte, wunderte er sich mehr als er Angst hatte, wer da überhaupt klopfen konnte, denn sein Zimmer lag doch im ersten Stock und einen Balkon davor, auf dem jemand stehen konnte, gab es nicht. Jan-Moritz ging vorsichtig zum Fenster und spähte ebenso vorsichtig hinaus. Da sah er dann, wer am Fenster 'klopfte': es waren Fritz und Henriette, die unten vorm Haus standen und Stöckchen gegen die Scheibe warfen. Jan-Moritz winkte ihnen zu und war auch schon aus dem Zimmer, die Treppe runter und Sekunden später stand er bei den beiden. “Was macht ihr denn hier?” wollte Jan-Moritz wissen.
“Du, Jan-Moritz, hast Du nicht Lust, mit zum Wasser zu kommen?“, fragte Henriette voller Vorfreude, „da soll heute Nachmittag ein großer Segler vorbeikommen, Fritz meint, es sei die Gorch Fock, das Segelschulschiff. Wenn wir so nahe wie möglich bis ans Wasser gehen, können wir das ganz groß sehen und brauchen nicht einmal ein Fernglas!” - “Klar komme ich mit!” war Jan-Moritz’ knappe Antwort und mit einem kurzen Zuruf an seine Mutter, dass er bald wieder zurück sei, waren die Drei auch schon verschwunden und im Trab unterwegs zum Deich. Von dort ging’s über die Wiesen der Elbauen und über den kleinen Sommerdeich hinweg. Einige Zäune mussten die Drei überklettern, die die Bauern dort aufgestellt hatten, damit sich ihre Kühe nicht verirrten und aus Versehen zum Nachbarbauern liefen, und dann ging das letzte Stück noch durchs dichte Schilf.
Schließlich mussten sich Henriette, Fritz und Jan-Moritz die Holzschuhe ausziehen und die Hosenbeine hochkrempeln , damit sie durch das flache Wasser waten konnten, das hier beinahe das ganze Jahr über stand. Heute hatten sie Glück,
denn es war Ebbe und sie konnten über den schlickigen Boden bis ganz dicht ans Fahrwasser der großen Ozeanriesen herangehen.
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