Neaira spürte nichts mehr, nicht in ihrem Herzen und nicht in ihrem Verstand. Es gab nur eine Sache die wichtig war – Metaneira nach so vielen Jahren wiederzusehen, beinahe so selbstverständlich als wäre sie niemals fort gewesen. Entspannt lag sie an jenem Abend, als Neaira Hipparchos zugeführt wurde, neben einem großen noch nicht sehr alten Mann auf der Kline. Die Jahre hatten sie zu einer jungen Frau gemacht - schön, anmutig und auf eine nachlässige und unbedachte Art sehr reizvoll unter der dicken Schminkpaste. Als sie sich in die Augen sahen, schmolzen die Jahresumläufe, die sie getrennt gewesen waren, dahin. Neaira hätte gerne den Abend nur mit Metaneira verbracht. Als der Mann an Metaneiras Seite die Blicke zwischen ihnen bemerkte, flüsterte er Metaneira etwas zu, woraufhin sie schnell den Kopf schüttelte. Der Blick, den sie Neaira kurz darauf schenkte, verunsicherte sie. War es Furcht, die sie in Metaneiras Augen gesehen hatte?
Erst am nächsten Abend konnte sie mit der Freundin ein paar Worte wechseln. „Wo bist du all die Jahre gewesen?“
„Ich war die ganze Zeit hier.“
Da wusste Neaira, dass es allein Nikaretes Wille war, der darüber bestimmte, ob sie ihre Freundschaft wieder aufnehmen durften oder nicht. Die Harpyie hatte ihr ein Angebot sowie eine Drohung gleichermaßen unterbreitet. Gehorche, und ich werde großzügig sein. Als Neaira zu ihrer Kline zurückgehen wollte, hielt die Freundin sie am Arm fest. „Halte dich wenn möglich von Timanoridas fern. Er hat dich ins Auge gefasst.“
Meinte sie den, bei dem sie am gestrigen Abend gelegen hatte, diesen großen Mann? „Wir sind in ihrer aller Augen, Metaneira. Einer mehr oder weniger, was macht das schon?“
„Er ist schlimmer als sie alle zusammen“, konnte Metaneira ihr noch zuflüstern, bevor auch sie sich wieder ihrem Begleiter zuwenden musste.
Bald darauf setzten Neairas Mondblutungen ein. Die Schwarze kam, um Neaira zu erklären wie eine ungewollte Schwangerschaft zu vermeiden war – mit einer Salbe aus Bleiweiß, einem unsichtbaren Geheimnis, das sie sich vor dem Zusammentreffen mit den Männern in die Scham einführte. „Bleiweiß ist der Segen und die Verderbnis der Frauen. Es gibt der Haut eine milchig weiße Farbe und zerstört sie, wenn man zu viel davon nimmt. Ebenso verhält es sich beim Verhüten von Schwangerschaften. Zu viel bedeutet den Gifttod, zu wenig eine ungewollte Leibesfrucht.“ Idras wies auf ihr schwarzes Gesicht. „Ich bin froh, dass meine Haut so schwarz ist, dass kein Bleiweiß sie heller machen könnte. Das Bleiweiß wird dich für lange Zeit jung halten, doch irgendwann wird es dich zerstören. Selbst Nikarete will nicht auf mich hören und hellt damit ihre Haut auf. Jetzt ist sie so fleckig, dass sie ohne Bleiweiß das Haus nicht mehr verlassen kann. Aber für dich wird Bleiweiß trotzdem dein bester Freund sein, solange du für Nikarete arbeitest.“
Wie hätten die Götter in einen Leib, der nichts kannte als Zorn und Hass, ein Leben hineintun können? Neaira tat jedoch, was Idras von ihr verlangte. Sie lernte von ihr, das weiße Pulver mit Fett zu mischen und sich ihre Salben und Schminkpasten selbst anzurühren. Neaira hatte oft versucht zu fliehen, und was hatte es ihr gebracht? Nur noch mehr Hass und Demütigung. Mit Schrecken hatte sie erkennen müssen, dass all die Herren, die sie auf ihre Kline zogen, in ihren eigenen Häusern Töchter hatten, die nicht älter waren als Neaira. Mit Wärme und Zärtlichkeit sprachen sie von ihnen, versteckten sie in Frauengemächern und erwähnten niemals ihre Namen, da es als unziemlich galt. Aber sie kamen in Nikaretes Haus, riefen laut nach Neaira und taten mit ihr Dinge, von denen ihre Töchter nicht einmal wissen durften, dass es sie gab. Sie waren reich, besaßen Macht und Ansehen – wer hätte es ihnen verbieten sollen? Alle, deren Wort so viel Gewicht hatte, dass sie Neaira hätten helfen können, kamen selbst in Nikaretes Haus und zerrten sie auf ihr Lager. Warum also fliehen ... und wohin?
Als Neaira es schon fast vergessen hatte, kam Idras zu ihr: „Heute Abend wirst du auf der Kline des Herrn Timanoridas liegen!“ Neaira hatte kaum noch an ihn und die Warnung Metaneiras gedacht. Aber was machte es schon, neben wem sie lag? Hipparchos, Xenokleines, Timanoridas - sie waren nur Namen und Körper, nichts weiter.
Timanoridas empfing sie mit Freundlichkeit auf seiner Speisekline, strich ihr über das Haar und war weniger unangenehm als die anderen, neben denen sie sonst lag. Neaira wartete vergeblich auf Metaneira, da sie die Freundin gerne noch einmal gefragt hätte, weshalb sie Timanoridas gefürchtet hatte. Sie erschien nicht, so oft Neaira auch nach ihr Ausschau hielt. Als die Nacht spät wurde, nahm Timanoridas sie schließlich bei der Hand und führte sie in eines der Zimmer. Neaira wäre lieber in ihrem eigenen Bett eingeschlafen, doch sie wusste dass jeder Abend auf der Speisekline eine Nacht auf der Schlafkline mit sich brachte.
Timanoridas schloss die Tür hinter ihnen. Mit einer einzigen Handbewegung riss er ihr den Chiton vom Leib, warf sie auf das Lager, und starrte sie an. Dann schlug er sie - mit den Händen, einem schweren Gürtel und mit Worten. „Hure ... ihr mögt es doch, wenn man euch hart anfasst.“
Neaira mochte es nicht, hütete sich jedoch ihm das zu sagen. Viel zu erschrocken war sie über seine Rohheit, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Als Timanoridas sie am Morgen verließ, war er wieder ein normaler Mann. Neaira meinte, jeden einzelnen Teil ihres Leibes schmerzhaft zu spüren. Als Idras kam, zeigte sie der Schwarzen die roten Striemen und die blauen Flecken. „Es ist ganz richtig, dass du mir das sagst. Für solche Art von Lust muss er mehr bezahlen.“
„Ich kann kaum den Arm heben. Er wird mich totschlagen.“
Idras zuckte mit den Schultern und schlug Neaira vor, Timanoridas möglichst viel Wein einzuschenken, wenn sie das nächste Mal auf seiner Kline lag. Damit war die Angelegenheit für sie erledigt.
In ihrem Zimmer mit den blauen Wänden setzte sich Neaira auf ihr Bett und starrte die Wand an. Wenn es doch keine Wand, sondern der blaue Himmel gewesen wäre, und sie ein Vogel, der einfach hätte fortfliegen können. Doch die Wand blieb eine Wand und sie war kein Vogel, sondern Neaira, die Sklavin der Harpyie. Es kümmerte Nikarete nicht, ob Timanoridas sie totschlug oder ob sie starb. Die einzige Berechtigung ihres Lebens bestand darin, Nikaretes Geldbeutel zu füllen. Da wurde Neaira klar, dass niemand sie vor Timanoridas schützen würde, wenn sie es nicht selbst tat. Als die Tür ihres Zimmers sich öffnete, dachte sie bereits über die wenigen Möglichkeiten nach, die ihr als Sklavin gegeben waren.
„Ich habe gehört, dass Timanoridas dich auf seine Kline geholt hat – es tut mir leid, ich wollte es verhindern. Doch was kann ich schon tun?“ Metaneiras helles Haar war unter einem Perlennetz gebändigt, und sie trug einen gelben Chiton, der viel zu unauffällig für Nikaretes Geschmack war.
„Wo bist du gestern Abend gewesen?“
Metaneiras Gesicht strahlte wie die Sonne - als hätte sie gehofft, Neaira würde sie fragen. „Ich wollte es dir bereits sagen – es gibt einen Mann, der mir ein Zimmer nahe der Agora bezahlt, wenn er in Korinth ist. Lysias aus Athen. Er behandelt mich gut und mit Respekt, fast als wäre ich seine Gattin.“
Wie konnte Metaneira mit einem derart glücklichen Lächeln über einen Mann sprechen? Neaira verstand es nicht.
„Ich muss nur noch zu Nikarete, wenn er zurück nach Athen geht. Wenn er in Korinth ist, bezahlt er für mich, führt mich aus und will mich für sich alleine. Es gibt keine anderen Männer in dieser Zeit, Neaira. Kannst du dir das vorstellen?“
Neaira konnte sich nicht vorstellen, dass Metaneira so dumm war, auf diesen Lysias hereinzufallen. Jeder Mann war ein Satyr, und jeder Mann war ein Timanoridas.
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