Endlich hatte Canyon ihren Schlüssel gefunden und öffnete die Tür. „Gehen wir in die Küche“, schlug sie vor. „Dann können wir uns unterhalten, während ich etwas zu essen vorbereite.“
Jem folgte ihr durch den kleinen Flur in eine winzige, helle Küche, die modern und praktisch eingerichtet war. „Sie leben allein?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Er sah sich um. Tontöpfe mit frischen Kräutern standen auf den Fensterbänken. Es gab ein Sortiment blinkender Edelstahltöpfe und verschieden großer Pfannen, die - nach Größe sortiert - über dem Herd hingen. Canyon Toshiro kochte offensichtlich gern. Vielleicht konnte sie es auch. Auf einmal wurde ihm bewusst, wie hungrig er war. Seit diesem dünnen Honigtoast mit Kaffee am Morgen hatte er nichts mehr gegessen.
„Ja“, antwortete sie, „seit einem Jahr.“
Canyon begann Zwiebeln zu schälen und zu schneiden. Er sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Er hoffte, sie weinte nur wegen der Zwiebeln und nicht aus einem anderen Grund.
„Was ist passiert?“
„Er hat mich nicht respektiert.“
Jem nickte. Weiter nachzuhaken, wäre unhöflich gewesen und es interessierte ihn auch nicht. „Kann ich irgendwie helfen?“ Auf einmal kam er sich überflüssig vor.
Canyon überließ ihm die Zwiebeln und entschuldigte sich für einen Moment. Als sie in die Küche zurückkam, bereitete sie einen herzhaften Salat aus Tomaten, Eissalat, Oliven und Schafskäse.
„Essen Sie überhaupt Oliven und Schafskäse?“
Jem blickte in die Schüssel, in der beides bereits vermengt war mit den anderen Zutaten. „Ich werde es versuchen“, erwiderte er mit todernstem Gesicht.
Canyon lachte. In diesem Moment ahnte sie, dass sie ihn mochte, obwohl sie sich von ihm nicht dasselbe erhoffen durfte. Er war der erste Mann, den sie in ihr Apartment gelassen hatte, abgesehen von Charlie Wilson, Sarahs Ehemann - und den Möbelträgern. Aus Erfahrung wusste sie, dass die eigene Wohnung eine Menge über die Person verriet, die darin lebte. Was auch immer sie veranlasst hatte, Jem Soonias zu sich einzuladen, nach diesem Abend würde er mehr über sie wissen, als ihr vielleicht lieb war. Aber vielleicht erfuhr sie ja auch einiges über ihn.
„Worüber wollen Sie mit mir sprechen, Jem?“, fragte sie, während sie Paprika und Zucchini wusch.
„Wie sind Sie eigentlich zu Ihrem ungewöhnlichen Vornamen gekommen?“
Canyon sah ihn schräg von der Seite an. „Um das herauszufinden, haben Sie doch nicht den weiten Weg in die hässliche Stadt gemacht, oder?“
Sarah hatte ihr das mal erzählt: Indianer kamen nie direkt zur Sache. Selbst wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hatten, redeten sie erst einmal über andere, belanglose Dinge und man musste Geduld aufbringen. Nun - sie hatte Zeit.
„Nein.“ Er spülte sich die Hände unter dem Wasserhahn und trocknete sie an seiner Hose ab. „Aber ich würde gern ein wenig über Sie wissen, bevor ich Ihnen mehr über mein Leben erzähle, als ich es vernünftigerweise tun sollte.“
„Ich verstehe.“ Enttäuscht dachte Canyon, dass es also kein wirkliches Interesse war, nur Neugier oder eine Art Absicherung. Dennoch erzählte sie ihm die Geschichte. „Als meine Mutter mit mir schwanger war, besuchten meine Eltern den Grand Canyon in Arizona. Sie waren überwältigt von seiner atemberaubenden Schönheit, dieser unfassbaren Weite, den verrückten Farben. Als ich geboren wurde, bekam ich diesen seltsamen Namen.“
Canyon gab die Zucchini- und Paprikastreifen in die Pfanne. Sie überlegte, ob sie es bei dieser Antwort bewenden lassen sollte. Doch dann fügte sie hinzu: „Als Kind mochte ich meinen Namen nicht und bestand darauf, dass man mich Canny rief. Inzwischen habe ich mich an meinen Namen gewöhnt. Ich glaube, es gibt schlimmere.“
Sie lächelte, obwohl ihr nicht danach zumute war. Ihr Vater hatte ihr die Geschichte, wie sie zu ihrem Vornamen gekommen war, oft erzählt. Und nun musste sie an ihn denken, voller Trauer und einer Art taubem Schmerz, der sie jedes Mal halb blind machte, wenn er sie unerwartet überfiel.
Zum Glück konnte Jem ihr Gesicht nicht sehen, weil sie den Kopf neigte und eine glatte Haarsträhne, die aus der Spange gerutscht war, ihr Gesicht verdeckte.
„Ich finde, es ist ein außergewöhnlicher Name mit einer schönen Geschichte“, sagte er. „In unserem Volk gab man sich früher auch Namen von Tieren, Pflanzen oder bestimmten Orten. Jetzt sind unsere Namen weiß und langweilig.“
„Nun, Jem ist auch nicht gerade gewöhnlich.“ Canyon hatte sich wieder unter Kontrolle und sah ihn an.
Er zuckte die Achseln. „Ursprünglich sollte ich Jim heißen. Aber meine Mutter hat nie viel von Schule gehalten. Sie behauptet, in der weißen Schrift wohne die Lüge. Mit einigen Buchstaben stand sie damals noch auf Kriegsfuß und als sie nach meiner Geburt der Hebamme meinen Namen aufschreiben sollte, wurde aus dem i ein e und aus Jim eben Jem.“
„Sind Sie deshalb Lehrer geworden?“ Canyon hantierte am Herd und spürte seinen interessierten Blick. Sie hoffte, sie konnte mit ihren Kochkünsten ein paar Pluspunkte sammeln.
„Möglicherweise“, sagte er. „Es macht mir Freude mit Kindern zu arbeiten. Sie sind noch offen für alles und ich habe das Gefühl, ihnen etwas mit auf den Weg geben zu können. Auf einen Weg, der von vornherein um einiges steiniger ist als der von weißen Kindern.“
Dem hatte sie nichts entgegenzusetzen.
Jem schwieg und sah aus dem Fenster, doch sein Blick schien ins Leere zu gehen. „Ich werde versuchen, Stevie selbst zu finden“, verkündete er schließlich. Canyon wollte protestieren, doch da sprach er schon weiter: „Meine Mutter war bei einer alten, angesehenen Frau im Dorf. Einer Wahrsagerin oder Heilerin, wie auch immer. Sie hat behauptet, dass Sie mir bei meiner Suche helfen können, Canyon. Deshalb bin ich hier.“
Canyon fiel das Messer aus der Hand und schepperte in den Ausguss. Jem drehte sich um und sie blickte ihn ungläubig an. „ Ich ?“
„Es klingt absurd, ich weiß“, sagte er beinahe entschuldigend. „Aber warum sollte die alte Grace das sagen, wenn es keinen Grund dafür gibt? Fremde sind in Dog Lake nicht gerne gesehen. Man kann also nicht behaupten, dass Sie einen Sympathiebonus haben, weder bei meiner Mutter noch bei Grace Winishut. Und doch riet sie mir, Sie aufzusuchen.“
Befremdet sah Canyon ihn an. „Was ist das Besondere an dieser Grace, das Sie ihrem Rat gefolgt sind? Sie sehen nicht aus wie jemand, der schnell auf andere hört.“
„Grace ist die Heilerin in unserem Dorf. Bevor die Leute sich überwinden, zu einem Arzt in die Stadt zu gehen, suchen sie Grace Winishut auf. Sie hat außergewöhnliche Fähigkeiten.“
„So?“
„Als Kinder glaubten wir, dass sie uns mit einem einzigen Blick in Frösche verwandeln kann.“
Canyon unterdrückte ein Lächeln. „Eine Medizinfrau also.“
Jem seufzte. „Medizinfrau, Wahrsagerin, Heilerin - wie auch immer Sie dazu sagen wollen. Sie hört sich Träume an und hilft bei ihrer Deutung. In ihren eigenen Träumen empfängt sie Lieder, mit denen sie anderen Lebenshilfe leistet. Aber sie kann auch helfen, wenn jemand körperlich krank ist. Ihr Können beruht auf dem geheimen Wissen über die Heilkraft von Pflanzen. Hat eine Krankheit ganz offensichtlich eine natürliche Ursache, wird in der Regel Grace geholt.“
Canyon neigte den Kopf zur Seite und betrachtete Jem mit fragendem Blick. „Was kann eine Krankheit außer natürlichen denn noch für Ursachen haben?“
Ihr leicht spöttischer Ton ärgerte Jem und er hatte keine Lust, auf ihre Frage zu antworten. „Ich glaube nicht, dass Sie diese Dinge verstehen würden, Canyon. Meine Mutter behauptet jedenfalls, Grace Winishut kann Dinge sehen, die wir nicht sehen können, weil unser Blick nicht so weit reicht wie der ihre.“
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