1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 In dieser Nacht begriff Canyon, dass sie sich von Gordon trennen musste, wenn sie ihr Leben in den Griff bekommen wollte. Sie wählte die Nummer ihrer Kollegin und zehn Minuten später stand Sarah vor der Wohnungstür, um Canyon mitzunehmen. Sarah und ihr Mann Charles bestanden darauf, Gordon anzuzeigen, aber Canyon ließ sich nicht dazu bewegen. Schließlich waren die beiden bereit, von einer Anzeige abzusehen, unter der Bedingung, dass Canyon zu ihnen zog, so lange, bis sie eine neue Wohnung gefunden hatte.
Die nächsten Tage begleitete Sarah Canyon auf Schritt und Tritt. Sie holten ihre Sachen aus der Wohnung und Sarah vermittelte ihr das Apartment, in dem sie jetzt lebte. Gordon machte sich nicht die Mühe, Canyon nachzulaufen. Diesmal hatte er die Grenze überschritten und er war klug genug zu wissen, dass er sein Versprechen, ihr nie wieder weh zu tun, nicht einhalten konnte.
Das war jetzt ein Jahr her. Seitdem war Canyon Gordon zwei- oder dreimal begegnet. Das letzte Mal bei einem Mozartabend des Thunder Bay Symphony Orchestra im Auditorium, einer modernen Konzerthalle, die über tausend Menschen Platz bot. So viele Menschen und doch liefen sie einander über den Weg, er mit einer blonden, sehr elegant gekleideten jungen Frau an seiner Seite. Sie hatten einander angesehen und gegrüßt und sie hatte nichts empfunden außer Mitleid und Bedauern. Sie hatte ihre Liebe an einen Idioten vergeudet, und das vier Jahre lang.
Diese Tatsache änderte nichts an einer anderen: Canyon fühlte sich einsam. Es gab Momente, in denen sie Gordon vermisste. Er hatte ihr eine Art Sicherheit gegeben und in seinen guten Zeiten war er ein aufmerksamer Liebhaber gewesen. Unter seinen geduldigen Händen hatte sie ihren ersten Höhepunkt erlebt. Sie erinnerte sich noch gut an jene Nacht mit ihm, in der erwartungsgemäß alles schiefgegangen war. Doch statt aufzugeben, war sein Interesse an ihr auf unerklärliche Weise gewachsen.
Seine Hartnäckigkeit hatte Canyon zu der Annahme verleitet, dass er sie wirklich lieben würde. Gordon hatte ihr Geschenke mitgebracht, war zärtlich gewesen und hatte sie nicht bedrängt. In dieser Zeit hatte sie gelernt, dass Zärtlichkeiten nicht zwingend mit dem Eindringen in ihren Körper verbunden sein mussten. Zum ersten Mal seit zehn Jahren hatte sie wieder Vertrauen zu einem Mann fassen können.
Gordon Shaefer hatte sie aus ihrem dunklen Gefängnis geführt, nur um sie später dorthin zurückzustoßen. Nun war es für sie noch schwerer, mit ihrem eigenen Körper Freundschaft zu schließen. Weil er Bedürfnisse hatte, ihr Kopf aber sagte, dass es schmerzhaft war, diesen Bedürfnissen nachzugehen. Sie wollte nicht lieben, sie wollte nur vergessen.
Canyon ließ sich auf ihre Stoffcouch fallen und stellte den Fernseher an. Mit der Fernbedienung zappte sie einmal durch alle Programme und stellte das Gerät wieder aus. Sie ging ins Bad und nahm eine Dusche, danach hockte sie sich wieder auf ihre Couch und blätterte in der Tageszeitung. Sie sah nach, ob es vielleicht einen guten Film im Kino gab. Am besten eine Komödie.
Es lief „ Die Mumie II “, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen hinzugehen. Sie konnte sich zu überhaupt nichts durchringen.
Mit angezogenen Beinen, die Arme um die Knie geschlungen, saß sie da und wiegte sich in monotonem Rhythmus vor und zurück. Dass passierte ihr manchmal, wenn die Gedanken sich vom Körper lösten. Wenn sie zurückglitt in die Vergangenheit, ohne dass sie es wollte. Wenn aus dem Heute das Gestern wurde. Dann saß sie wieder in diesem Schrank, von Dunkelheit umschlossen, wiegte ihren mageren Körper und murmelte Beschwörungsformeln.
Weil sie Angst hatte. Weil sie sich schützen wollte. Weil sie glaubte, wenn sie ihn nicht sah, würde er sie auch nicht sehen.
„Na, wie war euer Essen im Gourmettempel?“ Neugierig musterte Canyon ihre Kollegin am nächsten Morgen.
Sarah Wilson war eine untersetzte Rothaarige Ende Dreißig, mit breiten Hüften und einer Neigung zur Leibesfülle. Sie naschte für ihr Leben gern und man sah ihr nicht an, dass sie dreimal in der Woche joggte. Aber Canyon wusste es, denn manchmal liefen sie gemeinsam auf der Uferpromenade des Lake Superior.
„Oh, einfach Klasse die Küche dort“, schwärmte Sarah. „Das Mousse au Chocolat war köstlich.“ Genussvoll verdrehte sie die Augen.
Canyon lachte kopfschüttelnd. Sarah, mit der sie sich ein Büro im Gebäude des Sozialamts teilte, war eine Frohnatur. Schon seit vielen Jahren kümmerte sie sich aufopferungsvoll um Kinder, die zu Fällen des Jugendamtes geworden waren. Missbrauch, Verwahrlosung, seelische und körperliche Misshandlungen. Die Kindheit konnte auch eine Hölle sein.
Canyon, der die meisten Fälle so nahe gingen, dass sie Mühe hatte, ihr seelisches Gleichgewicht nicht zu verlieren, wunderte sich jedes Mal aufs Neue, wie Sarah diese Tragödien ertrug. Woher sie die Kraft nahm, trotz des vielen Leids ein fröhlicher Mensch zu bleiben.
Als Canyon vor anderthalb Jahren als Neuling ins Jugendamt kam, nahm Sarah sie unter ihre Fittiche und inzwischen hatte sie eine Menge gelernt von ihrer erfahrenen Kollegin: Wie man Ruhe bewahrt, obwohl man seinem Gegenüber am liebsten an die Kehle gehen würde. Wie man sich mit einer Fünfjährigen über abnorme Sexualpraktiken unterhielt, ohne dabei in Tränen auszubrechen und wie man einer Autopsie beiwohnt, ohne hinterher Alpträume zu bekommen. Dass es ratsam war, den Leuten immer einen Ausweg offen zu lassen, weil manch einer, in die Enge getrieben, zu den merkwürdigsten Reaktionen fähig war.
Meist gelang es Canyon, ihren Job auf diese Weise in den Griff zu bekommen. Doch manchmal, wenn ein Fall sie so sehr beschäftigte, dass sie Mühe hatte, wieder Boden unter den Füßen zu spüren, da fragte sie sich, ob sie diesen Beruf nur deshalb gewählt hatte, damit ihr eigenes Leid an Bedeutung verlor.
„Und wie war dein Ausflug in die Wildnis?“, fragte Sarah. Von schlechtem Gewissen ganz offensichtlich keine Spur.
„Du hättest mich vorwarnen können“, erwiderte Canyon vorwurfsvoll. „Ich war falsch angezogen.“
„Moskitos?“ Sarah verzog mitleidig das Gesicht, doch sie hatte dabei ein spöttisches Funkeln in den blauen Augen.
Canyon musste lachen. Seit jener Nacht, als Sarah sie aus Gordons Wohnung geholt hatte, war sie ihre beste Freundin und Vertraute. Sie war der einzige Mensch - abgesehen von ihrer Therapeutin - dem sie von ihrer Vergangenheit erzählt hatte. Das war ein großer Vertrauensbeweis, aber bei Sarah Wilson waren ihre Geheimnisse sicher aufgehoben.
Sollte Robert Lee Turner, der in Canyon vernarrt war, je von ihrem Kindheitstrauma erfahren, würde er ihr Befangenheit bescheinigen, sie in eine andere Abteilung versetzen und nicht mehr mit Fällen von Kindesmisshandlung betrauen. Und dabei hatte Canyon gerade zu diesen Kindern einen besonderen Draht, weil sie sich in sie hineinversetzen konnte.
Durch ihr beinahe magisches Gespür, hatte sie schon viele Male vollkommen verängstigte und verstörte Kinder zum Reden gebracht. Sie vertrauten Canyon, als ob sie fühlen könnten, dass sie jemanden vor sich hatten, der dasselbe durchgemacht hatte wie sie.
„Schwarzfliegen“, antwortete sie, „Morast und ...“
„Und was ?“ Sarah zog fragend die Stirn in Falten.
„Indianer.“
Seufzend lehnte sich Sarah ihren Drehstuhl zurück. „Na komm schon, Can, du hattest schließlich nicht das erste Mal mit ihnen zu tun. Sie gehören zu unseren besten Kunden.“
„Ja ja, ich weiß. Aber die Ojibwa da draußen im Reservat sind irgendwie anders.“
„Anders? Klar sind sie anders. Ihre Welt ist eine andere. Die meisten von ihnen gehen auf die Jagd. Sie sind freie Menschen, obwohl sie im Reservat leben. Noch vor hundert Jahren durchstreiften sie als räuberische Nomaden die Wälder. Bis man sie zwang, in dauerhaften Siedlungen zu leben und ihr Dasein mit staatlichen Fürsorgeschecks zu fristen.“
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