„Du solltest endlich Ordnung in dein Leben bringen, mein Sohn. Es ist nicht gut, was du da treibst. Die Leute reden schon.“
Aufgeschreckt aus seinen Gedanken, hob Jem den Kopf, wollte seine Mutter fragen, was sie damit meinte.
Jakob legte seinem Sohn beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. „Gehen wir ein Stück?“, fragte er und klopfte mit dem verzierten Pfeifenkopf auf den Tisch.
Jakob durfte im Haus seine Pfeife nicht rauchen. Seine Ehefrau führte ein strenges Regime, trotzdem fühlte er sich nach all den Jahren immer noch wohl an ihrer Seite. Elsie war wie ein Baum, der tief in der Erde wurzelte. Er konnte sich daran festhalten, wenn der Wind des Lebens manchmal zum Sturm wurde und ihn ins Haltlose zu wirbeln drohte. Wie damals, als Simon, sein zweiter Sohn, in der fernen Stadt gestorben war.
Der Verlust hatte tiefe Spuren in Jakobs Leben hinterlassen. Immer wieder fragte er sich, was er falsch gemacht hatte, ob er als Vater versagt hatte. Warum war es nicht möglich, die Kinder zu beschützen? Sie waren das Wichtigste für sein Volk, noch vor dem Land. Die Kinder und das Land gehörten zusammen, weil sie die Zukunft bedeuteten. Die Weißen hatten versucht, ihnen beides zu nehmen. Deshalb war sein Volk krank. Deshalb hatte er Simon verloren.
Die Weißen zu ignorieren, wie seine Frau es tat, war keine Lösung für ihn. Aber es gab nur wenige, in deren Gesellschaft Jakob sich nicht unwohl fühlte; nur wenige, denen er traute.
Jakob Soonias ahnte, was in seinem Sohn vorging. Dass Jem an sich selbst zweifelte. Er hatte niemanden, an dem er sich festhalten konnte. Das war nicht gut. Elsie und er hatten gehofft, dass Jem nach Marys Tod bald wieder eine Frau finden würde, eine, die sich um ihn und den Jungen kümmern konnte. Bewerberinnen hatte es zur Genüge gegeben, aber Jem schien sie nicht einmal bemerkt zu haben.
Verzweiflung machte einsam und nahm einem die Selbstachtung. Es hatte lange gedauert, bis Jem wieder lachen konnte. Doch der Verlust, den er lange nicht wahrhaben wollte, hatte einen dauerhaften Schatten in seinen Augen hinterlassen.
Nie war eine Frau über Nacht in seinem Haus geblieben. Bis vor einem halben Jahr, mitten im klirrenden Winter, Ranee wieder in der Gegend aufgetaucht war und Jems Bett gewärmt hatte. Ranee, die, wie schon ihre Großmutter vor Jahren, nichts als Unruhe ins Dorf gebracht hatte.
Jem stibitzte eine geschälte Apfelhälfte und folgte seinem Vater nach draußen. Sie liefen nicht zum See, sondern ein Stück in den Wald, der gleich hinter dem Haus begann. Schweigend lauschten sie den geisterhaften nächtlichen Dissonanzen der Grillen. Die Luft hatte sich abgekühlt, nachdem die Sonne hinter den Wipfeln der Bäume verschwunden war.
Im Wald hielt sich der Duft von Tannenspitzen und wilden Kräutern. Hier, so nahe am Dorf, gab es viele ausgetretene Pfade, die alle irgendwann im Nichts endeten. Wo sie aufhörten, begann das Reich der Tiere, der Hexen und Geister. Dort draußen hauste der Weetigo , der mächtige Waldgänger mit einem Herz aus Eis. Ein Dämon, vor dem alle sich fürchteten.
Jem lachte tonlos. Solche Geschichten fielen ihm ein, wenn es dunkel wurde. Ob Stevie jetzt irgendwo in dieser Dunkelheit gefangen war und sich fürchtete?
„Nimm es ihr nicht übel, dass sie so daherredet“, sagte sein Vater. „Deiner Mutter gefällt es nicht, dass du mit dieser Frau zusammen bist.“
„Ranee Bobiwash?“
Jakob brummte. „Ja, welche Frau sonst! Sie ist die Einzige, die du nach Marys Tod in dein Haus und dein Bett gelassen hast.“
„Dad!“ Jem mochte es nicht, wenn sein alter Vater so mit ihm redete. Er mochte überhaupt nicht über Ranee reden.
„Wahrscheinlich hast du sie auch in dein Herz gelassen, was noch viel schlimmer ist“, bemerkte Jakob kopfschüttelnd. „Nun hat sie Macht über dich.“
Jem mühte sich, gelassen zu bleiben. Er hob die Schultern. „Was soll das, Dad? Ranee ist klug, sie ist eine hervorragende Künstlerin und sie ist eine Cree. Was hat Mom an ihr auszusetzen?“
„Du hast etwas vergessen, mein Junge. Ranee ist sehr schön und sie weiß es.“
„Na und? Ist das ein Verbrechen?“
„Nein. Aber du solltest darüber nachdenken, wie viel dir Äußerlichkeiten bedeuten. Diese Frau ist gefährlich, Jem, sie hat den bösen Blick. Deine Mutter sagt, sie ist eine Hexe.“
„O je, Dad“, Jem lachte laut auf. „Du glaubst doch nicht etwa, was Mom da sagt. Ranee und eine Hexe! Moms Phantasie spielt mal wieder verrückt.“
„Diese Frau war sehr lange weg von unserem Volk, Jem. Keiner weiß, wo sie gelebt hat und was sie dort getrieben hat.“ Jakob zog an seiner Pfeife. „Vielleicht solltest du mal mit Grace sprechen.“
„Grace Winishut?“, fragte Jem mit unverhohlenem Spott in der Stimme. „ Sie ist wirklich eine Hexe. Die Kinder im Dorf fürchten sich vor ihr.“
„Fürchtest du dich auch?“
„Um Himmels willen, nein. Wie kommst du nur auf so etwas?“
„Deine Mutter und Grace sind nicht gerade das, was man Freundinnen nennen kann“, räumte Jakob ein. „Aber Elsie hat großen Respekt vor Grace Winishuts Fähigkeiten und ihrem Wissen. Sie ist eine Heilerin und sieht Dinge, die andere Menschen nicht sehen können.“
„Das tut Mom auch“, erwiderte Jem spöttisch. „Sie sieht Gespenster.“
Eine weiße Tabakwolke hüllte seinen Vater ein. „Warum sperrst du dich so vehement gegen alles, was unser altes Leben ausgemacht hat?“, fragte Jakob. „Das sind unsere Traditionen. Sie haben uns jedes Mal geholfen zu überleben, wenn es schwierig wurde für unser Volk. Wenn wir sie aufgeben, geben wir uns auf.“
„Meinst du mit Traditionen die Geschichten von Hexen, dem Weetigo und anderen Dämonen des Waldes?“ Jem sah seinen Vater an. Von ihm hatte er die stattliche Größe und die kräftige Statur. Er hatte seinen Vater immer bewundert und respektiert. Wie Jakob um ein würdevolles Leben kämpfte und nie aufgab. Obwohl er oft enttäuscht worden war und viele Niederlagen einstecken musste, hatte er der Verbitterung standgehalten. Auch noch in der schlimmsten Situation konnte er Hoffnung schöpfen und besaß die Gabe, diese Hoffnung an andere weiterzugeben.
Jem hatte seinem Vater viel zu verdanken. Eine Erziehung voller Güte, Respekt und ohne Zwang. Von Jakob kannte er unzählige Geschichten über die Tiere der Wildnis, die Teil einer uralten Übereinkunft waren.
„Wenn die Tiere spüren, dass die alten Mythen in Vergessenheit geraten“, hatte sein Vater ihm erzählt, „dann werden sie das Land verlassen.“ Die Tiere wurden weniger, das war nicht zu leugnen. Aber Jem wusste, dass es an der industriellen Ausbeutung der Wälder lag: Kahlschlag, Erdölförderung, Erzminen und Skigebiete.
Sein Vater war Jäger und hielt an den alten Ritualen fest. Er gehörte zu den wenigen Männern von Dog Lake, die auch den Winter in der Wildnis ohne die Errungenschaften der Zivilisation überleben konnten. Als Jem in Stevies Alter war, hatte sein Vater begonnen, ihn mit hinaus in die Wälder zu nehmen, um zu jagen oder die Fallenstrecke abzugehen. Jem sollte lernen, wie man Schlingen legt und Holzfallen baut. Er sollte lernen, wie man die Jahreszeiten nutzt, um sich in der Natur zurechtzufinden.
Jem hatte diese Ausflüge, die manchmal Tage dauerten, geliebt. Er erinnerte sich noch genau an jenen Tag, an dem er seinen ersten Elch erlegt hatte. Damals war er fünfzehn gewesen und trunken vom Fieber der Jagd. Sein Vater hatte ihn noch an Ort und Stelle auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.
„Ein Tier töten ist kein Sport“, hatte Jakob gesagt. „Nichts, um sich selbst oder den anderen zu beweisen, was für ein toller Kerl man ist. Kein Lebewesen ist mehr wert als das andere. Wir töten, weil wir das Fleisch zum Leben brauchen, nicht um einen Sieg zu erringen. Bedanke dich bei dem Tier, mein Sohn, das sich für dich geopfert hat.“
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