„Und was gibt es Ihrer Meinung nach noch für Möglichkeiten?“, wollte Jem wissen.
Er war ihr unangenehm nahe gekommen und seine erneut aufkeimende Aggressivität hielt sie für ein schlechtes Zeichen. Canyon bekam Angst, dass er sich in seinem Zorn vergessen könnte. Gerne hätte sie sich auch noch die anderen Räume des Hauses angesehen, vor allem die Küche, hielt das aber im Augenblick für keinen guten Zeitpunkt.
Canyon wandte sich zum Gehen und mit einem letzten Rest Beherrschung in der Stimme fragte sie: „Gibt es da draußen wilde Tiere?“
Jem Soonias lachte kopfschüttelnd und diesmal war sein Lachen kalt und abweisend. Er folgte ihr durch den Flur. „Ja klar, Wölfe und Bären.“ Bevor Canyon die Haustür öffnen konnte, schnappte er sie am Arm und instinktiv versteifte sich ihr Körper. Die Stelle, an der er sie festhielt, begann zu kribbeln und wurde taub. Eine Fühllosigkeit, die sich auf ihren ganzen Körper auszubreiten drohte.
Canyon bereute es, den Mann so in die Enge getrieben zu haben. Das war eigentlich nicht ihre Art, denn mit solchen Situationen hatte sie schlechte Erfahrungen gemacht.
Einmal, ganz zu Beginn ihrer Tätigkeit im Jugendamt, hatte ein aufgebrachter Vater sie als Geisel genommen. Sie hatte den Mann im Gespräch verdächtigt, seine kleine Tochter krankenhausreif geprügelt zu haben. Er schloss Canyon im Badezimmer ein und drohte damit, sie nicht eher gehen zu lassen, bis man öffentlich seine Unschuld erklärte. Canyon war erst seit einem Monat beim Jugendamt angestellt und ihr fehlte die Erfahrung.
Robert Lee hatte den Forderungen des Mannes nachgegeben, weil er um Canyons Sicherheit fürchtete. Später hatte sich herausgestellt, dass der Mann seine siebenjährige Tochter über Jahre hinweg geschlagen hatte.
Seitdem war Canyon vorsichtiger geworden. Und misstrauisch war sie sowieso. Jems zorniges Gesicht näherte sich ihrem und sie wich zurück ins Dunkel des Flures.
„Kein wildes Tier hat Stevie etwas getan und ist danach mit seinem Fahrrad verschwunden“, sagte er mit gepresster Stimme. „Das ist einfach lächerlich.“
Plötzlich sprang die Haustür auf und Jem ließ Canyon abrupt los. Beinahe wäre sie gefallen, fing sich jedoch wieder. Licht drang in den Korridor und eine Frau stand vor ihnen, die ungefähr in Jems Alter sein musste. Mitte dreißig, schätzte Canyon, vielleicht auch ein oder zwei Jahre jünger.
Die Indianerin fixierte sie mit einem scharfen Blick kalter Neugier. Sie war groß, einen ganzen Kopf größer als Canyon. Die sinkende Sonne im Rücken, schien ihr langes schwarzes Haar wie von einer rötlichen Aura umgeben. Ihr Blick streifte Canyons Dienstmarke und ein feindseliger Ausdruck schlich in ihre Augen.
Canyon schluckte beklommen. Irgendetwas Seltsames schien von dieser Frau auszugehen, etwas, das ihr mehr Angst einjagte, als Jem Soonias Zorn. Das Ganze lief aus dem Ruder und sie wollte nichts als weg von diesem Ort, an dem sie nicht willkommen war.
„Ranee!“ stieß Jem hervor. „Ich dachte, du bist in Kenora?“
„War ich auch. Aber was ist eigentlich hier los? Mir sind Polizeifahrzeuge entgegengekommen.“
„Stevie ist verschwunden.“
„Was sagst du da?“
„Er war draußen bei seiner Höhle und ist nicht nach Hause gekommen.“
„Das ist ja furchtbar.“ Die Stimme der Frau klang mitfühlend, aber Canyon war wachsam.
Sie stand zwischen den beiden und fühlte auf einmal ein seltsames Vibrieren in der Brust. Als wäre sie in ein Magnetfeld geraten und eine negative Energie würde durch sie hindurch strömen. Etwas Magisches verband diese beiden Menschen. Ihr wurde schlagartig klar, dass die Indianerin Jem Soonias Geliebte war.
Canyon trat einen Schritt zur Seite, um dem Energiefeld zu entkommen. „Sind Sie eine Freundin von Mr Soonias?“, fragte sie, als sie ihre Beherrschung wiedergefunden hatte.
Die Frau ignorierte ihre Frage.
„Ranee Bobiwash“, sagte Jem an ihrer Stelle. „Ranee ist Künstlerin und wohnt drüben in Nipigon. Gelegentlich hält sie Workshops in der Schule, an der ich unterrichte.“
Canyon blickte zu Ranee auf. Ein ovales Gesicht mit hohen Wangenknochen, braune Haut und schräge Augen. Sie waren jedoch nicht dunkel, wie sie zuerst geglaubt hatte. Ranees Augen waren moosgrün.
„Und wer sind Sie?“, fragte die Indianerin.
Obwohl Canyon wusste, dass Ranee die Dienstmarke an ihrer Bluse registriert hatte, antwortete sie: „Canyon Toshiro, Sozialarbeiterin vom Jugendamt in Thunder Bay. Ich musste Mr Soonias ein paar Fragen stellen. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wohin der Junge verschwunden sein könnte?“
Die Indianerin schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Keine Ahnung?“
Canyon hatte kein Entgegenkommen erwartet von dieser Frau, die sich so eigenartig benahm. Man konnte nie wissen, was Indianer dachten oder warum sie etwas taten. Ihre Gefühlswelt schien eine vollkommen andere zu sein und bisher war Canyon noch nicht dahintergekommen, wie diese Welt funktionierte.
Sie wandte sich dem Vater des Jungen zu, zog ihre Visitenkarte aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, das von Wichtigkeit sein könnte, Mr Soonias, oder wenn Sie merken, dass in Stevies Zimmer etwas fehlt, dann rufen Sie mich an. Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.“
Canyon wusste nicht, warum sie das gesagt hatte. Vielleicht, damit sie schnell fortkonnte aus dieser Welt, die ihr fremd und unheimlich vorkam. In Wirklichkeit konnte sie nichts tun und sie zweifelte sogar daran, dass ihre Anwesenheit tatsächlich von Nutzen gewesen war. Sollte die Polizei sich um die Sache kümmern, dafür war sie schließlich da. Es gehörte nicht zu ihrem Aufgabenbereich, nach verschwundenen Kindern zu suchen.
Ihr Vorgesetzter hatte sie hierher geschickt, damit sie herausfand, ob die Eltern des Jungen etwas mit seinem Verschwinden zu tun hatten. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Jem Soonias keinen blassen Schimmer hatte, wo sein Sohn sich aufhielt und warum er nicht nach Hause gekommen war. Aber sicher war sie sich nicht. Sicher war nur, dass sie hier nichts mehr verloren hatte. Man würde das Jugendamt erst dann wieder einschalten, wenn Stevie aufgetaucht war.
Wenn er lebend aufgetaucht war.
Canyon lief die Treppe hinunter, sorgsam darauf bedacht, nicht zu fallen. Sie spürte den bohrenden Blick der Indianerin im Rücken und wollte vermeiden, dass sie vor deren Augen ausrutschte oder stolperte.
Der Schlamm an ihrem Wagen war inzwischen getrocknet und hatte sich grau gefärbt. Canyon stieg ein und verließ das Dorf. Sie hatte nicht auf Wiedersehen gesagt. Mit Sicherheit war Jem Soonias nicht darauf erpicht, sie wiederzusehen.
Ranee stand immer noch in der Tür. In diesem Moment klingelte das Telefon in der Küche. Jem lief ins Haus und nahm hastig ab. „Hallo? Wer ist da?“
„Harding hier“, meldete sich der Inspektor. „Sind Sie es, Mr Soonias?“
„Ja. Haben Sie etwas gefunden? Irgendeine Spur von meinem Sohn?“
„Nein“, sagte Harding, mit ehrlichem Bedauern in der Stimme. „Wir haben den ganzen See abgesucht. Erfolglos. Auch die Hündin konnte nichts finden. An einer Stelle hört die Spur Ihres Jungen plötzlich auf. Dort könnte ein Auto gestanden haben, aber da sind so viele Spuren, die sich überlagern. Der Boden ist zu aufgeweicht.“
„Danke“, sagte Jem und dachte darüber nach, was der Polizist gerade gesagt hatte. Erfolglos . Wäre es für Harding ein Erfolg gewesen, wenn Stevie auf dem Grund des Sees gelegen hätte? „Was werden Sie jetzt weiter unternehmen?“
„Wir werden die Suche morgen bei Tageslicht fortsetzen. Außerdem brauche ich ein Foto Ihres Sohnes, nicht zu klein, wenn möglich. Dann werde ich eine Vermisstenmeldung mit seiner Beschreibung herausgeben und an die anderen Provinzbehörden weiterleiten. Wenn Stevie bis morgen nicht wieder aufgetaucht ist, müssen wir seine Freunde und die Leute aus dem Dorf befragen.“
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