Onkel Hinnerk hatte ihm sehr ans Herz gelegt, an Bord für Ordnung zu sorgen. „Jung!“, hatte er gesagt. „Nix is schlimmer als Unordnung an Bord. Stell dir vor, der Herr Pastor würde während der Überfahrt über irgendeinen Krempel stolpern und über Bord fallen, nicht auszudenken wär das!“
Nun, so verführerisch der Gedanke auch war, dem Prediger zu einem unfreiwilligen Bad zu verhelfen – Onkel Hinnerk hatte natürlich recht: Unordnung an Bord durfte es nicht geben. Jan war stolz auf sich, denn seinen wachen Augen entging nichts. Auch jenes kleine Tauwerk, welches dort vorn vorwitzig unter der Bank hervorlugte, hatte da eigentlich gar nichts zu suchen. Am besten wäre es wohl, wenn man es beiseite räumte. Noch besser, jetzt gleich, bevor noch etwas passierte. Jan hatte völlig vergessen, dass er sich gerade in der Mitte der Lesum befand. Das Gebändsel da zog ihn mit magischer Kraft an. Jawoll, wegräumen musste man das. Sofort!
Jan Kiekut legte die Riemen aus der Hand, beugte sich vor, nahm das Ende in die Hand und zog. „Oha, das hat sich irgendwo vertüdelt“, stellte Jan fest und zog stärker. Aber das Tauwerk dachte gar nicht daran, sich zu lösen. Mit einem mächtigen Ruck riss der Junge nunmehr an dem Ende, bis es nachgab.
Zu spät merkte Jan, dass es sich bei dem groben Hanfzopf um ein sehr notwendiges Bootszubehör handelte, welches Onkel Hinnerk kunstvoll in den breiten Spalt zwischen den Bodenbrettern gedrückt und mit etwas Teer verschmiert hatte. Wie aus einer Quelle sprudelte nun das Lesumwasser durch die Ritze in den Kahn, in dem Jan Kiekut wie versteinert stand. Stetig kletterte das Wasser an Jans Beinen empor, und an beiden Ufern des Flüsschens lief allerhand Volk zusammen und sah staunend zu, wie der schwere Eichenkahn langsam unter Jans Füßen wegsackte. Erst als dem Bengel das Wasser bis an den Hals stand, fiel ihm ein, dass er schwimmen konnte. Triefnass zog man den prustenden Aushilfsfährmann schließlich ans Ufer, wenn auch an das falsche. Bibbernd stand Jan Kiekut am Schönebecker Sand und schaute frierend hinüber nach Vegesack. Wie sollte er nun da wieder hinkommen? Nur gut, dass Jan sich immer zu helfen wusste. Die Menge der Schaulustigen allerdings brach in donnerndes Gelächter aus, als Jan Kiekut sich ans Ufer stellte, mit den Armen winkte und rief: „Fährmann, hal över!“
Es war wie verhext. Dichter Nebel lag über der Weser und hüllte ganz Vegesack in einen undurchdringlichen Schleier. Jan Kiekut stand schon seit Stunden am Utkiek und wartete. Gerade heute sollte doch Onkel Fiete von großer Reise nach Grönland zurückkommen. Man hatte das Schiff schon am Morgen erwartet, und jetzt war Mittag vorbei. Der Nebel machte keine Anstalten, sich zu verziehen. So konnte natürlich kein Schiff die Weser hochfahren, denn Radar war zu jener Zeit noch nicht erfunden.
„Mist!“, brummelte Jan Kiekut und lauschte dem Gebimmel draußen auf dem Strom. Dort lagen einige Segelschiffe vor Anker, die der Nebel überrascht hatte. Die Besatzung musste nun alle naselang die Schiffsglocke läuten, als Warnung für noch in Fahrt befindliche Schiffe. Plötzlich hob Jan angestrengt lauschend den Kopf. Da war noch etwas: Leises Knarren und das Knarzen von Masten und unter Last stehenden Segeln war zu hören, und es wurde ständig lauter.
„Wahrschauuuu!!!“, brüllte es draußen auf dem Fluss, woraufhin von allen Seiten heftiges Glockenschlagen durch den Nebel drang und „Wahrschauuu!!!“-Rufe in allen Tonlagen ertönte.
Dann wieder „Wahrschauuu!!!“ von flussabwärts her. Gebimmel und „Wahrschauuu!!!“ von querab und flussauf. Wahrhaftig, da kam ein Segler im dichten Nebel die Weser hoch. Ganz langsam schob ihn der schwache Wind gegen den Strom flussauf. Der Kapitän schien verrückt zu sein.
Aber, dammi nomool, sinnierte Jan Kiekut, der musste sich verfahren haben. Denn wenn er auch die Schule nur gelegentlich besuchte, so hatte er doch schon gehört, dass die Stadt Warschau viel weiter im Osten lag. Also musste man den Leuten doch sagen, dass sie irgendwo falsch abgebogen waren und wo sie sich wirklich befanden. Beim nächsten „Wahrschauuu!!!“ antwortete er deshalb in voller Lautstärke: „Veeeegesaaack!!!“
Donner, da wurde es still am Strom! Nur der Ausguck von dem aufkommenden Segler versuchte nochmals sein Glück und rief: „Wahrschauuu!?!“
Allerdings klang das schon etwas zaghafter und auch leicht verwundert. Ungerührt donnerte Jan Kiekut zurück: „Veeegesaack, du Töffel!!!“
Brüllendes Gelächter aus allen Richtungen antwortete ihm.
„Vegesack???“, schrie nun der Ausguck und „Vegesack!!!“, „Vegesack!!!“, schrie es vielstimmig mit Gelächter aus dem Nebel zurück.
„Na also!“, brummelte Jan zufrieden, vergrub die Hände bis an die Ellenbogen in den Hosentaschen und spuckte in hohem Bogen in den Fluss.
Irgendwann später einmal klärte ihn sein Freund Kapitän Harmssen darüber auf, dass auf der ganzen Welt der Ruf „Wahrschau!!!“ der Warnruf der Schiffer ist und so viel heißt wie „Achtung!“ oder „Vorsicht!“. Aber da war es bereits zu spät, denn seit jener Zeit ruft man bei Nebel auf der Weser nur noch „VEEEEGESAAACK !!!!!“
Hein Petermann, was Jan Kiekut sein Vater war, rieb sich die Hände. Jau, heute passte alles ganz wunderbar zusammen. In der Nacht würde Vollmond sein, und die Flut würde auflaufen, wenn der Mond schon hoch stand. Zwar bedeutete dies, dass an Schlaf nicht zu denken war, aber Hein Petermann wollte heute zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen würden heute die Aale mit dem auflaufenden Wasser ins Flache aufsteigen, um vor dem Schilfgürtel am Ufersaum nach Fressbarem zu jagen. Dort würden sie leichte Beute für den Fischer sein. Und zum anderen musste er ja irgendwann mal dem Bengel was Vernünftiges beibringen.
Er kramte gutgelaunt die Aalgabeln aus dem Geräteschuppen hervor und wog sie prüfend in der Hand. Jau, die etwas kleinere und leichtere Gabel konnte Jan schon gut führen. Im seichten und klaren Wasser waren die sich schlängelnden Aalkörper im Mondlicht gut auszumachen, und man brauchte nur noch mit der Aalgabel zuzustoßen. Die flachen, gezackten Zinken würden den Aal festhalten, bis er am Rand des mitgeführten Holzbottichs abgestreift wurde.
Jan Kiekut war mit Feuereifer bei der Sache. Mit weit aufgekrempelten Hosenbeinen stand er hinter einem Schilfbüschel im flachen Wasser und lauerte auf die Aale, die da kommen sollten. Und sie kamen! Der Fischreichtum von Weser und Lesum war enorm und Jan Kiekut wusste gar nicht, wohin er die Gabel zuerst stechen sollte. Schon purzelten die ersten blanken und schlangengleichen Fischleiber in den hölzernen Trog. Da, ein dicker Raubaal, und da kam schon der nächste - zustoßen, und ab in den Bottich! Und noch einer, und noch einer – es nahm einfach kein Ende. Jan merkte nicht, wie die Zeit verging. Er merkte auch nicht, dass er schon längst seine Deckung verlassen hatte und nun im offenen, seichten Wasser umherwatete. Er sah nur noch Aale und – oh, Mann! Da war ein ganz dicker, da vorn, am Schilfbüschel!
Jan stieß mit aller Kraft zu. Meine Güte, war das ein Brocken! Es riss dem Bengel die Aalgabel aus der Hand, und mit lauten Schmerzensschreien tanzte der vermeintliche Aal durch das flache Wasser zum Ufer hin, um sich dort stöhnend ins Gras fallen zu lassen. Hein Petermann zog mit einem Ruck die Zinken von seinem geschundenen großen Zeh und wickelte fluchend einen Lappen um seinen blutenden großen Onkel. Die fürchterlichsten Drohungen ausstoßend wankte er nach Hause, wo wenig später der Wundarzt mit zwei sauberen Nähten die klaffende Wunde schloss.
Wie um alles in der Welt konnte ein Mensch einen Aal mit einem großen Zeh verwechseln, an dem auch noch weithin sichtbar sein Besitzer hing?
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