„Klar! Du hast recht, Jan. Mensch, was du alles weißt! Und der wirkliche Grund?“
„Na, weil den Seeleuten hier in den vielen Kneipen der Geldsack utfeegt ward , also ausgefegt wurde. Wenn sie aus den Schänken kamen, waren ihre Taschen so leer, dass sie sie nach außen stülpen konnten, ohne dass noch etwas herausfiel.“
Demonstrativ stand er auf, langte in seine Hosentaschen und drehte das Innerste nach außen. Emil klatschte sich die flache Hand vor die Stirn.
„Geniaaaal“, hauchte er.
Jan deutete mit dem Daumen nach hinten über seine Schulter. Emil drehte sich automatisch um, konnte aber nicht entdecken, was sein Freund meinen könnte.
„Wie heißt die älteste Kneipe im Ort?“, fragte Jan, um Geduld bemüht. Emils Blick fiel nun auf das Gebäude neben dem Havenhaus, an dessen Fassade eine Matrosenfigur aufgemalt war, die eben die leeren Taschen aus der Hose zog. Darunter stand der Name der Schänke: Thom Fegesacke.
„Und die steht da schon seit mindestens 1453“, trumpfte Jan auf. „Kapitän Harmssen sagt, das sind so ungefähr 350 Jahre, da waren sogar unsere Eltern noch klein. – Haste noch nie gesehen, nich?“
Emils Augen wanderten wieder zur Nase, doch die Denkerfalten blieben aus. Scheinbar war der Geistesblitz diesmal schneller gewesen.
„Jan, was meinst du? Ob die hier in Vegesack das alle wissen?“
Jan schaute seinen Freund mit einem merkwürdigen Ausdruck an. „Ja. Ich glaube, mit ganz wenigen Ausnahmen, ja“, murmelte er erschüttert.
Normalerweise war Jan Kiekut so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen, aber gerade jetzt war er so aufgeregt, dass ihm sogar das Frühstück nicht schmecken wollte.
„Heute ist der große Tag!“ Er hibbelte auf seinem Stuhl herum, was ihm einen strafenden Blick seiner Mutter bescherte. „Onkel Heini hat mir versprochen, mich mit auf die Werft zu nehmen, Mama. Da soll ein neuer Segler vom Stapel laufen. Und vorher will er mir alles ganz genau zeigen und erklären. Ist das nicht toll?“
So ein Stapellauf war schon etwas ganz Besonderes. Und Jan durfte auch dabei sein, wenn der Eigner das Schiff taufte. Mann, wenn das kein Ereignis war!
Stolz durchschritt unser Vegesacker Jung an Onkel Heinis Seite das Tor und war sofort gefangen vom regen Treiben auf der Werft. Es sägte, klopfte und hämmerte rundherum, und Jan wusste gar nicht, wohin er zuerst schauen sollte. Auf riesigen Gerüsten waren Zimmerleute dabei, dicke Baumstämme zu handlicheren Planken zu zersägen. Aus der Schmiede stob ein heller Funkenregen, und überall zogen Arbeiter schwere Lasten auf Handkarren über das Gelände oder waren mit Pferdefuhrwerken unterwegs von den Werkstätten zur Helling.
Onkel Heini führte ihn über die ganze Werft, bevor er mit dem Jungen zum Helgen ging. Das war der Platz am Fluss, an dem die Schiffe gebaut wurden. Jan blieb die Luft weg. Weit musste er den Kopf in den Nacken legen, um an dem hölzernen Rumpf des neuen Schiffes emporschauen zu können, das sich wie ein Gebirge vor ihm erhob. Onkel Heini erklärte ihm lachend, dass dieses Schiff nicht größer war als diejenigen, die im Hafen lagen. Nur konnte man jetzt, da es noch an Land lag, auch den Teil des Rumpfes sehen, der sich sonst unter Wasser befand. Dadurch wirkte es natürlich riesig in seinen Ausmaßen. Jan kam sich plötzlich ganz klein und verloren vor. Majestätisch und unbeweglich ruhte der Neubau auf der hölzernen Helling und Jan fragte sich, wie man diesen Koloss denn wohl ins Wasser befördern wollte? Mit Schieben wäre das nicht zu machen.
Auch das konnte Onkel Heini ihm erklären. „Das Ganze steht auf einer Rutschbahn aus eingefetteten Balken und wird nur von einem einzigen Kanten Holz am Wegrutschen gehindert. Wenn du den wegziehst, gleitet das Schiff ins Wasser! Das ist alles wohl durchdacht. Aber, wart mal eben, Jan, ich sehe gerade da hinten den Meister winken. Jung, bleib mal eben hier stehen, ich komm gleich wieder.“
Sprach’s, drehte sich um und verschwand zwischen den Gerüsten. Wenn der Meister rief, musste es etwas Wichtiges geben. Da hatte alles andere zu warten.
Hm, ein einziges Holz! – Jan sah sich um. Welches mochte es wohl sein? Vorsichtig stupste er mal an den einen, wackelte dann zaghaft an einem anderen Balken.
„Nö, alles fest“, brummelte er enttäuscht. Vielleicht weiter vorn? Gewandt kletterte er vor dem Schiff auf die schiefe Ebene und … Donnerwetter, was hatte Onkel Heini noch gesagt? Eingefettet! Jau, und wie gründlich und gut gefettet der Balken war, das merkte Jan Kiekut in dem Moment, als es ihm die Beine unter dem Achtersteven wegschlug und er auf dem Hosenboden die Schräge in Richtung Wasser hinunter glitschte. Er rutschte auf einen mächtigen Balken zu, und geistesgegenwärtig versuchte der Junge, sich mit den Füßen dagegenzustemmen, um seine Fahrt zu bremsen. Aber das Holz flog in hohem Bogen davon, und noch bevor der Bengel das Wasser erreicht hatte, hörte er, wie sich hinter ihm mit Knarren und Quietschen das neue Schiff in Bewegung setzte.
Ein paar starke Arme rissen Jan Kiekut aus der Gefahrenzone und er kugelte ein paar Meter zur Seite, wo er sich unversehens in einem Haufen Takelseil wiederfand. Benommen rappelte sich der Unglücksrabe auf und konnte gerade noch sehen, wie der funkelnagelneue Schiffsrumpf mit mächtiger Heckwelle und unter dem aufgeregten Geschrei der Schiffbauer in die Weser rauschte.
Jan Kiekut sah aber auch, wie einige der Zimmerleute nach herumliegenden Latten griffen und sich suchend umsahen. Der Junge begriff blitzartig, nach wem die Männer da Ausschau hielten. Er befand, dass er für diesen Tag genug Aufregung gehabt hatte, und bevor es für ihn nun noch aufregender werden sollte, hielt er es für angebracht, sich heimlich, still und leise aus dem Staub zu machen.
„Es fällt mir bestimmt nicht leicht“, überlegte er und dachte dabei voller Wehmut an die verpasste Schiffstaufe, „doch manchmal kann es gesünder sein, sich in Verzicht zu üben.“ Mit einem letzten Blick über die Schulter wischte er aus dem Tor und machte, dass er davonkam.
Die Handelswege waren zu Jan Kiekuts Zeiten noch nicht so gut ausgebaut wie heute, und so kam es schon mal vor, dass man sich nasse Füße holte, wenn man einen Fluss überqueren wollte. Da es damals an den Flüssen kaum Brücken gab, war man darauf angewiesen, eine Furt, also eine flache Stelle im Wasser, oder an den größeren Strömen eine Fähre zu finden. Eine Brücke gab es weiter oben an der Lesum, wo die Burg stand, denn dort verlief der alte Heerweg von Bremen nach Wesermünde, der in Friedenszeiten als Handelsweg genutzt wurde. Hier unten, bei dem kleinen Städtchen Vegesack, wo die Lesum in die Weser floss und beide Flüsse so tief waren, dass die großen Segelschiffe noch gut ihre Fracht anlanden konnten, ließ man sich vom Fährmann über den Fluss staken oder rudern.
Der Fährmann, der die Wegverbindung der Uferstraße zwischen Bremen und Vegesack sicherstellte, hieß Hinnerk Paul und war ein angeheirateter Onkel von Jan. Gelegentlich half Jan ihm bei seiner anstrengenden Arbeit und sie ruderten den schweren Kahn dann gemeinsam über die Lesum. Onkel Hinnerk hatte daher auch keine Bedenken gehabt, Jan die Fähre einmal ganz anzuvertrauen. Onkel Hinnerk sollte nämlich noch einmal Vater werden und hatte sich zur Geburt einen freien Tag gegönnt.
So saß also Jan Kiekut mit vor Stolz geschwellter Brust auf der Ruderbank und schipperte seine Fahrgäste zwischen dem alten Vegesacker Tief auf der einen Seite des Flusses und dem Schönebecker Sand auf der anderen Seite hin und her. Eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe, denn der Schiffsverkehr auf der Lesum war zu diesem Zeitpunkt schon recht dicht. Jan musste höllisch aufpassen, dass er nicht einem der behäbigen Torfkähne, die vom Teufelsmoor her die Hamme und Lesum hinab segelten, vor den Bug geriet.
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