Für die Gipfelstürmer beschließen wir, dass es Zeit für ein erstes Gruppenfoto wird und haben sehr schnell den großen Felsen als standesgemäße Kulisse auserkoren. Die Jungs sind ohnehin schon oben, die Mädchen scheinen den Gedanken auch in Ordnung zu finden. Ich weiß, dass der Abstieg für einige eine Herausforderung werden wird, aber ich finde, das können sie ruhig auch noch meistern. Ich geselle mich zu meiner Klasse und mein Kollege übernimmt das Fotoshooting. Und da ich mit meinen über fünfzig Jahren auch unbeschadet vom Felsen komme, klettern mir die Mädchen zwar aufgeregt aber zuversichtlich hinterher und werden auf dem letzten Stück tatkräftig von den Jungs unterstützt. Und sogar Natascha lächelt und scheint ihre Leistung zu genießen. Ich schicke direkt das erste Foto an die Elternsprecherin meiner Klasse, die es in den Elternchat stellen wird. Wir sind gut angekommen!
Der Rückweg gestaltete sich nicht halb so dramatisch wie der Aufstieg. Außer, dass sich Kadir, trotz aller Mahnungen vernünftig zu laufen, bei wilder Hatz bergab den Knöchel verstauchte. Efe hatte ihn gerade zurückhalten wollen, dafür aber nur ein: „Halt die Fresse, du Opfer, ist doch wohl meine Sache!“ eingefangen, da lag der Held auch schon auf dem Hinterteil. Jetzt konnte er aber natürlich nicht losjammern und lehnte männlich konsequent jegliche vorbeugende Maßnahme wie Kühlung oder stützende Bandagen für den Rest des Abends ab.
Lassen Sie meine Tochter da, ich hole Sie ab!
Kaum im Objekt angekommen, erreichte mich ein Anruf. Ada sollte am Freitag nicht mit uns gemeinsam mit dem Bus nach Hause fahren, sondern in Dresden den Zug besteigen, da ihre Eltern anderenorts für mehrere Tage einen Workshop leiteten und sie übers Wochenende mit dorthin kommen sollte. Man hätte das jetzt ausdiskutiert und würde heute noch die Zugtickets schicken. Ich wies die Eltern darauf hin, dass ich das Mädchen in gar keinem Fall ohne etwas Schriftliches mit ihrer eigenhändigen Unterschrift in irgendwelche Züge setzen würde und erntete dafür schon einmal Kritik. Ob denn ein Fax ausreichen würde? Ich hielt Rücksprache mit meinem Schulleiter. Ja, teilte er mir mit, ein Fax wäre in Ordnung. Ich hegte meine Zweifel, dass die avisierten Zugtickets uns pünktlich erreichen würden und fragte nach einem Plan B. Ein Plan B existierte nicht.
Adas Eltern arbeiten als Künstler. Ich lernte sie auf einem der ersten Elternabende kennen und der Vater hinterließ sofort einen bleibenden Eindruck bei mir. Als ich meinen Klassenraum betrat, saß ein aus meinen Augen optisch gewöhnungsbedürftiger Mitvierziger mit den Füßen auf dem Lehrertisch an meinem Platz und blätterte entspannt in meinen Unterlagen. Und statt eines „Guten Abend“ kam ein „Na, da sind Sie ja auch endlich.“ Ich atmete tief ein, zählte sehr langsam bis fünf, grüßte und wies ihn darauf hin, dass er an meinem Platz saß und die Nase in Dinge steckte, die ihn nichts angingen. Ich bat ihn, sich doch bitte einen anderen Platz zu suchen. „Äh, hier steht nichts von Lehrertisch dran.“ Lässig zurück gelehnt blieb er sitzen und betrachtete mich erst einmal entspannt von oben bis unten. Er ließ sich Zeit. Es dauerte einige Momente, bis er sich wieder vernehmen ließ: „Na, denn mal.“ Damit wuchtete er sich aus meinem Stuhl, um lässig durch den Raum zu schlendern und an einem der Schülertische Platz zu nehmen. Seitdem bringe ich meine Unterlagen immer erst mit in die Klasse, wenn es losgeht.
Fortan erkundigte ich mich jeden Tag, sobald wir von unseren Unternehmungen zurückkehrten an der Rezeption, ob denn ein Schreiben für mich eingegangen sei. Nein, kein Posteingang zu verzeichnen. Als auch am Mittwoch keine Fahrkarten für Ada angekommen waren, schrieb ich den Eltern eine Nachricht, mit der Bitte, sie mögen sich doch bei mir melden. Keine Reaktion. Tagsüber rief ich mehrmals an. Keine Reaktion. Kein Schreiben, kein Rückruf. Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar. Am Abend begann ich unruhig zu werden. Nach dem Abendbrot versuchte ich ein weiteres Mal, den Vater oder auch die Mutter zu erreichen. Der Teilnehmer war in beiden Fällen weiterhin nicht erreichbar. Gegen 23 Uhr meldete sich der Vater und begann das Gespräch mit der Frage, was dieser Telefonterror soll, er habe schließlich zu arbeiten.
„Die Fahrkarten sind noch nicht angekommen!“
„Das kann doch nicht sein, ich habe schließlich ein Haufen Geld dafür bezahlt!“
Es blieb unklar, ob für die Fahrkarten an sich oder den Transport selbiger. Der Mann brüllte sich in Rage. Ich hatte Mühe, meine Frage nach dem weiteren Vorgehen an den Empfänger zu bekommen. Er hat keine Zeit, seine Frau habe auch keine Zeit, außerdem sei ja morgen auch noch ein Tag.
„Ja, aber was ist, wenn die Fahrkarten auch morgen nicht...“
Die Verbindung war bereits unterbrochen. Er hatte aufgelegt. Die Fahrkarten trafen auch am Donnerstag nicht ein. Ein weiterer Anruf bei den Eltern brachte mir weiteren lautstarken Unmut des vielbeschäftigten Künstlers ein. Ich solle Ada am Freitag einfach im Objekt lassen, er würde sie im Laufe des Tages abholen, wenn er Zeit dafür hat. Jetzt hätte ich natürlich sagen können: „Was geht mich fremdes Elend an, ist schließlich ihre Tochter.“ Interessanter Weise vergessen Eltern sehr schnell, was sie gesagt haben, wenn dann doch etwas passiert. Dann steht plötzlich ein Anwalt in der Tür, der Geld wittert oder zumindest ein sehr guter Freund der Familie ist. Ich meldete also ernsthafte Bedenken an. Wer sollte oder würde hier im Objekt die Aufsicht über ein fünfzehnjähriges Mädchen übernehmen? Was, wenn er unterwegs einen Unfall hätte oder aus anderem Grund aufgehalten würde... Ich lehnte ab, trotz Gebrüll und Gezeter auf der anderen Seite.
„Entweder, sie sind bis zur Abfahrt des Busses hier, um ihre Tochter persönlich abzuholen, oder Ada fährt mit uns nach Berlin.“ Ich nannte ihm noch einmal die geplante Abfahrtszeit des Busses, verlegte sie intern vorsichtshalber um eine Stunde nach vorn, damit wir am nächsten Tag nicht zu viel Verspätung hatten und legte auf. Mir klingelten die Ohren. Um sicher zu gehen, dass ich mich nicht doch auf dem pädagogischen Holzweg befand, rief ich noch einmal meinen Schulleiter an und bat um Bestätigung meines Vorgehens. Ansonsten hätte ich ja den Vater noch einmal anrufen und zu Kreuze kriechen können. Mein Vorgehen wurde bestätigt. Der Vater erschien 15 Minuten nach der offiziellen Abfahrtszeit des Busses, also genau 75 Minuten zu spät nach unserer internen Verabredung. Er fand sich großartig, schnappte sich grußlos seine Tochter, der das alles sichtlich unangenehm war und fuhr mit quietschenden Reifen vom Hof. Eine Woche später rief mich der Schulleiter zu sich und gewährte mir Einblick in einen Beschwerdebrief des besagten Vaters, in dem dieser sich wortreich über die unfähige, überhebliche und inkompetente Lehrerin seiner Tochter beschwerte und drastische Konsequenzen forderte.
Ich hatte ähnliches erwartet, fühlte mich aber trotzdem getroffen. Auf Dienstherrenseite fand sich allerdings niemand, der dieser Forderung nachkommen wollte.
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