Im bunten, quirligen Durcheinander aus Schülern, Eltern, Koffern und weiteren reiselustigen Klassen eines benachbarten Gymnasiums, dessen, bei diesen Gelegenheiten leider immer hoffnungslos überfüllter Parkplatz, als beliebter Be- und Entladepunkt für Klassenfahrten der Umgebung genutzt wird, erkenne ich aus den Augenwinkeln Fadil, einen meiner ADHS – Sprösslinge, der in modernen pädagogischen Publikationen viel und gern bemühten Aufmerksamkeitsdefizitstörung gepaart mit Hyperaktivität. In diesem Fall mit sehr viel Hyperaktivität und einem hohen Energieüberschuss. Fadil pflegt sich von Kaffee und Nutella zu ernähren. Man erkennt ihn in der Regel daran, dass er mit allen vier Extremitäten gleichzeitig wild rudernd, eine Schneise furchend, durch die Gegend rennt und sich hin und wieder auch einfach nur auf dem Boden wälzt.
Hatte ich schon erwähnt, dass es sich bei meiner Klasse um eine Zehnte handelt?
Nach einem Tetris verdächtigen Packmanöver des gutaussehenden, jungen und immer noch gut gelaunten Busfahrers kann es tatsächlich losgehen. Alle Koffer sind verstaut, die letzten Mütter haben mir noch beim Einsteigen diverse Extrawünsche mit auf den Weg gegeben und mich noch einmal eindringlichst ersucht, doch ja auf ihre Lieblinge, Prinzen und Prinzessinnen aufzupassen. „Schönen Urlaub“, ruft mir Cecylias Mutter noch kichernd hinterher und auch Neles Mutter seufzt theatralisch: „Ja, so eine Urlaubswoche extra hätte ich jetzt auch gerne.“ Dieser Witz ist so alt wie die Klassenfahrten selbst.
Wir verlassen die kleine sichere Enklave Berlin-Neukölln, in der die Geschäfte türkische oder arabische Schriftzüge tragen, die Männer mit kleinen Teegläsern in der Hand auf der Straße beieinandersitzen oder stehen und mehr Moscheen als Kirchen besucht werden und machen uns auf in Richtung unbekanntes Sachsen. Genauer ins Elbsandsteingebirge oder auch Sächsische Schweiz.
Wir fahren in die Schweiz
Das führte lange Zeit unter Schülern und auch einigen Eltern zu der irrigen Annahme, es ginge in die Schweiz. Also ins AUSLAND! Als ich den Irrtum durch eine Unterrichtseinheit „Die Entstehung des Elbsandsteingebirges“ im Erdkundeunterricht aufklärte, kam für viele die Ernüchterung. „Was, wir machen unsere Klassenfahrt nur nach Deutschland?“ Die Schüler maulten, die Eltern intervenierten. Die Kinder müssten doch fremde Sprachen und Kulturen kennenlernen! Das führte wiederum zu Irritation, diesmal auf meiner Seite. Ich fand, Deutschland kann man auch mal kennenlernen. Und für viele ist Deutsch eine fremde Sprache. Meine Schüler sprechen untereinander und manchmal leider auch als einzige Sprache Neuköllsch.
„ Ey, Alta, gehst du Cafeteria?“ Oder auch: „Ey, bist du Parchimer?“„Ne, bin isch Fahrrad!“ Was so viel heißt wie: “Gehst du heute in der Cafeteria essen?“ oder „Fährst du heute von der U-Bahnstation Parchimer Allee nach Hause?“ „Nein, ich bin mit dem Fahrrad da.“
Na gut, war eher eine pädagogisch bedingte Einzelmeinung. Aber nun sitzen wir doch im Bus. 22 von 24 Schülern einer Neuköllner Gemeinschaftsschulklasse. Dazu zwei begleitende Lehrkräfte und die dreijährige Tochter meines Kollegen. Zehn verschiedene Nationalitäten. Familien, in denen manchmal die Mutter, der Vater und die Kinder verschiedene Sprachen sprechen. Und verschiedenen Religionen angehören.
Ömer durfte nicht mit. Alles Reden und Bitten waren umsonst. Die Klassenfahrt ist zu teuer und geht ja nicht mal ins Ausland. Eine der zahlenmäßig minder vertretenen Familien, die ihr Geld nicht vom Amt bekommen. Häufig wird es da ganz besonders knapp. Ob das der Grund war? Ich weiß es nicht. Wir wollten Kuchen- und Waffelbasare veranstalten und Geld über den Förderverein beantragen. Nein. Es blieb dabei. „Ömer fährt nicht mit!“ Schade. Ich mag Ömer sehr. Ein netter, sehr feiner Junge. Liebenswert, ruhig, fleißig, zurückhaltend. Viel zu zurückhaltend, finde ich manchmal.
Und Burat, ja, BURAT - „Hat Burat Blutdruck, kann Burat nicht kommen!“ Neuköllsch für: „Burat leidet derzeit stark unter zu hohem Blutdruck und kann deshalb nicht teilnehmen.“ Ein Satz am Telefon, der in den letzten drei Jahren Geschichte machte. Ich erinnere mich an seine aufkommende Panik, als er registrierte, dass die Fahrt ins Gebirge geht und wir viel zu Fuß unterwegs sein werden. ZU FUSS! IM GEBIRGE!! BERGE!!! In der 8. Klasse nahm Burat nicht an der Klassenfahrt teil, weil wir eine Fahrradtour geplant hatten. In der Gegend um Wismar. Also nahezu ohne Anstiege. „Wenn Sie mich zwingen eine Fahrradtour mitzumachen, dann haue ich einfach ab!“
Burat verweigert seit Jahren bei jeder sich bietenden Gelegenheit mehr oder weniger erfolgreich die Teilnahme am Sportunterricht oder überhaupt körperliche Bewegung, ist übergewichtig und fehlt mehr als die Hälfte aller Schultage, immer mit ärztlichem Attest von verschiedensten Ärzten. Besonders an Tagen mit Sportunterricht und im Anschluss an die großen Ferien ist Burat schwer krank. Da ist er am letztmöglichen Rückreisetag immer transportunfähig und kann leider nicht in den ohnehin nicht gebuchten Flieger steigen. Spaßeshalber hatte ich einige Male um den Nachweis der Buchung gebeten, mit der man den ersten Schultag nach den Ferien pünktlich erreicht hätte und bei der Mutter damit einen gewissen Erklärungsnotstand ausgelöst. Deshalb kann ich das jetzt einfach so behaupten.
Eine Zeit lang versuchte sie dann während des Schuljahres meine offensichtlichen Zweifel an Burats permanenter Schulunfähigkeit auszumerzen, indem sie mir Beweisfotos schickte. Fotos vom Blutdruckmessgerät, Fotos vom Fieberthermometer, einmal erhielt ich ganze sieben Fotos von seinen Füßen, weil er sich auf einem Wandertag Blasen gelaufen hatte. Das führte zu 14Tagen Komplettausfall. Selbstverständlich mit ärztlichem Attest.
Wie es zu diesen schweren Verletzungen kommen konnte? An besagtem Wandertag - in jedem Monat ohne Schulferien gibt es einen, streng geregelt durch die Ausführungsvorschrift Wandertage - wollten wir mit unserer 8. Multikulti-Klasse tatsächlich im Berliner Forst ein paar Kilometer wandern. Wir wollten in die Müggelberge. Raus aus Neukölln. Rein in den Wald. Großes Abenteuer.
Wer die Müggelberge googelt findet bei Wikipedia folgenden Eintrag: „Die Müggelberge (früher auch Müggelsberge genannt) sind ein bewaldeter Hügelzug mit Höhen bis zu 114,7 mü. NHN[1] im Südosten Berlins im Bezirk Treptow-Köpenick. Sie werden durch den Kleinen Müggelberg (88,3m) und den Großen Müggelberg (114,7m) dominiert. Die Müggelberge umfassen eine Fläche von rund sieben Quadratkilometern. Entstanden ist der Höhenzug im Eiszeitalter.“ Ein sogenannter Endmoränenzug.
Außerdem liegen sie direkt am Müggelsee und von dort aus kann man entspannt mit einem Dampfer auf die andere Seite nach Friedrichshagen übersetzen, um dort wieder in die Berliner S-Bahn zu steigen. Eine Gegend Berlins, von der die meisten unserer Schüler, obwohl es Neuköllns direkter Nachbarbezirk ist, noch nie etwas gehört, geschweige denn etwas gesehen haben. Für diesen Ausflug hatte Burats Mutter ihm extra die super coolen, neu gekauften Schuhe ausgesucht. Das ging nicht gut.
Selbstverständlich waren es Schuhe mit Klettband. Der arme Junge konnte sich in der achten Klasse noch nicht einmal selbst die Schuhe binden und versuchte regelmäßig seine Mitschüler oder den Sportlehrer zu animieren, diesen schwierigen Part bei seinen Turnschuhen zu übernehmen. Was aus verschiedenen Gründen, zum einen pädagogische zum anderen eher olfaktorische, weder bei dem Einen noch bei den Anderen auf großes Verständnis stieß.
Ein Unter–Vier–Augen–Gespräch mit der Mutter endete in einem hysterischen, für mich vorerst völlig überraschenden und unverständlichen Lachanfall ihrerseits. Ich wechselte mit dem anwesenden Sozialpädagogen irritierte Blicke, weil wir die Mutter eigentlich vorsichtig und wie wir fanden höchst diplomatisch darauf hinweisen wollten, dass sie ihrem Sohn damit einen nicht ganz stressfreien Stand bei seinen Mitschülern verschaffte. „Aber Frau Abel, mein Sohn muss sich doch nicht selbst die Schuhe zu machen!“ Er musste sich auch nicht eigenständig die Brote schmieren oder den Müll rausbringen, sein Zimmer aufräumen, mal einen Teller abräumen oder sich Chips und Getränke eigenständig zur Couch holen. Das machte alles Mama für ihn. Das war ihr Lebensinhalt. Und nach eigenen Worten war es ihr großer Traum, zu gegebener Zeit bei ihm und einer zukünftigen Schwiegertochter mit einzuziehen, um dem Sohn auch weiterhin den Haushalt zu führen, alle Wünsche von den Augen abzulesen und ihm alles recht zu machen.
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