1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 So gehorchte Anna, schluckte und redete sich ein, dass sie froh sein müsse, weil sie nicht weiter gestraft wurde.
Doch die Erleichterung blieb aus. Es war ein Seufzer in Jungfer Rotnagels Stimme gewesen, so ein ergebener Seufzer. Anna fühlte, dass sie nicht einmal einer Strafe mehr würdig war.
Barbara wartete, bis ruhige Atemzüge im Raum bezeugten, dass allgemeine Nachtruhe eingekehrt war. Dann stand sie leise auf, zog Kleid und Mantel über und tastete sich durch die Dunkelheit zum Fenster. Vorsichtig öffnete sie die Läden und ließ langsam Luft und Mondlicht einströmen. Beim Rauschen flatternder Flügel fuhr sie herum und hätte das Fenster beinahe wieder geschlossen. Aber es war keiner aufgewacht, auch Michael nicht, der vorhin auf dem Heimweg von der Weide erst noch behauptet hatte, er bemerke immer, wenn sie sich wegschleiche. Barbara lächelte schelmisch in sich hinein und sah den Krähen hinterher, wie sie als schwarze Wolke den nachtblauen Himmel verdüsterten und einen kahlen Baum zurückließen. Als sie vorhin begonnen hatten, sich dort zu sammeln, musste Barbara an Marie denken, die letzte Nacht zwischen einem Krähenschwarm mit ihrer Großmutter zum Hexensabbat geflogen sein wollte. Besorgt hatte sie dem Kind immer wieder eingeschärft, auch heute, keine solchen Geschichten mehr zusammenzuspinnen und niemandem zu erzählen, dass sie nachts auf der Weide tanze. Eigentlich hatte sie noch weiter mit der Kleinen darüber reden wollen, war aber von Michael unterbrochen worden. Der Bruder gängelte sie damit, dass er dem Verbund der Knaben angehörte, und meinte, sie solle es selbst nicht übertreiben mit ihrer Tanzerei in der Spinnstube. Barbara hockte sich auf das Fenstersims, schwang beide Beine hinüber und sprang hinab auf den Lehmboden. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und lehnte behutsam die Fensterläden an. Ein Flüsterton, den sie erst für in den Zweigen wispernden Wind gehalten hatte, ließ sie herumfahren. „Franz“, zischte sie. „Warum kommst du hierher? Wenn uns nun doch einer sieht?“ Der Mann, durch seine knabenhafte Figur in der Dunkelheit verjüngt, schüttelte den Kopf. „Ich hab Acht gegeben, kann dich ja nicht allein durch die Nacht in die Spinnstube gehen lassen. Dahin wolltest du doch – um mich zu sehen, oder?“
Barbara verkniff sich mühsam ein Lachen. „Nacht – wir sind gerade erst schlafen gegangen. Und – bist du so sicher, dass ich wegen dir dorthin wollte?“
„Nur wegen mir.“ Franz umfasste ihre Taille. „Du hast mir ja schon deutlich gezeigt, dass du mir gehören willst. Ich will mich endlich offen zu dir bekennen, wie es einem ehrsamen Mann gebührt. Sie wissen doch längst über uns Bescheid.“
Barbara zog ihn weg vom elterlichen Haus. „Und wenn sie es nicht billigen?“ Sie entwand sich seiner Umarmung und warf scheue Blicke ins Dunkel. „Vielleicht sollte ich doch besser zurückgehen. Knaben wie mein Bruder sorgen mich nicht. Aber du weißt doch auch, wie die Burschenschaft mit solchen umspringen kann, die sich nicht lieben sollen, oder ist es anders dort, wo du herkommst?“
Er schüttelte den Kopf. „Gewiss nicht. Bei uns würde es auch keinem gefallen, wenn ein fremder Geselle den Angestammten eine Jungfer wegnähme, noch dazu...“ Er hielt inne, musterte Barbara begierig und räusperte sich verlegen, als sie sich seinen Blicken zu entziehen trachtete.
„Vielleicht kann uns die alte Trine helfen“, überlegte sie. „Sogar der Herr Pfarrer, der immer gemeint hat, die Spinnstube sei eine Lasterhöhle, billigt sie, seitdem Trine hinter ihrem Spinnrad über die Tugend wacht. Er hält große Stücke auf sie. Wenn wir Trine um Fürbitte beim Herrn Pfarrer bitten würden?“
Franz lachte auf. „Fürbitte – das klingt ganz nach altem Aberglauben, wird dem Herrn Pfarrer wohl gefallen.“
„Sprich nicht in solch spöttischem Ton von ihm.“ Barbara wandte sich ab. „Wir wollen hingehen, aber nicht gemeinsam. Geh’ du besser voraus.“
„Und du kommst auch wirklich nach? Nein, weißt du was“, fuhr er fort, ehe sie antworten konnte, „geh’ du vor, damit ich besser auf dich achten kann.“
Barbara nickte und drückte sich im Schutz vorspringender Giebel, die im Mondlicht ihre Schatten auf die Gasse warfen, an den Wänden entlang bis zum Eckhaus, wo die Spielmannsgasse in der Büßergasse endete. So ging sie weiter, die Büßergasse entlang zur Täuferbrücke, und warf dauernd Seitenblicke auf geschlossene Fensterläden, durch deren Ritzen Kerzenlicht schimmerte. Alle Sinne höchstgeschärft, erschrak sie manchmal durch die Schritte hinter ihr, dachte nicht an Franz. Auf der anderen Uferseite, nachdem sie vom nördlichen Rest der Büßergasse ins Neue Kirchgässle abgebogen und ein paar Schritte gegangen war, rannte er an ihre Seite und hielt sie an. Wie ein Fremder fühlte er sich einen Moment lang von ihr angesehen. „Warte, ich mag dich da nicht allein hineingehen lassen.“
„Warum? Was soll mir schon geschehen? Du wartest hier ein Weilchen und kommst dann langsam nach.“ Ehe er widersprechen konnte, ließ sie ihn stehen, raffte ihren Mantel und rannte an der Mauer entlang bis zum ersten Haus. Dort wich die Gasse von der Mauer ab und schlängelte sich zwischen eng stehenden Bauten hindurch. Drei Häuser weiter verschwand Barbara auf der Uferseite hinter der Türe zur Spinnstube.
Gelächter und munteres Geschwätz belebten die ruhende Stadt, bis die Tür hinter der jungen Frau ins Schloss gefallen war. Vorher schon suchten Barbaras Augen die hochbetagte Trine vergebens auf ihrem gewohnten Platz in der Ecke. Als wollte sie es nicht glauben, ging Barbara auf das verlassene Spinnrad zu und stolperte beinahe über einen Schemel.
Übermütig lachend tanzten zwei junge Paare an ihr vorbei. Sie wollte gerade wieder hinaus gehen, aber ein etwa gleichaltriges Mädchen, das mit anderen auf einer Bank am Kachelofen saß und stickte, hörte auf zu schwatzen und rief sie herbei. Barbara setzte sich daneben, hörte aber kaum zu, sondern suchte die Stube nach Trine ab. Überall hatten sich junge Burschen zu nähenden oder Flachs spinnenden Frauen und Mädchen gesellt. Nur oberflächlich betrachtet, wuchsen hier unter zartfühlenden Händen Bekleidungsstücke oder Tischdecken heran. Eifriger wirkten Augen und Lippen.
Barbara überlegte, ob sie das zum ersten Mal so empfand – jetzt, nachdem sie Trine nirgends entdecken konnte. In ihre Gedanken hinein öffnete sich die Tür. Zu spät bemerkte Barbara, wie augenfällig sie Franz ins Gesicht sah, als er eintrat. Wenigstens die Frauen auf der Bank mussten es mitbekommen haben. Beschämt und noch auffälliger senkte Barbara den Kopf. Franz hingegen hielt nach ihr Ausschau und schien sie nicht zu entdecken. Als sie den Kopf wieder hob, war er hinter Vorbeitanzenden verschwunden, die ihr ausgelassenes Gelächter entgegenschleuderten.
„Wo ist die alte Trine heut’?“
Eine der Schwatzenden neben ihr beäugte Barbara eingehend. Schon wollte sie die Frage wiederholen, als die Angesprochene dann doch antwortete. „Ja, weißt du das noch nicht? Die wacht doch bei ihrer Enkelin am Kindbett. Das Kleine hat nämlich der Teufel mitgenommen.“
„Hör’ auf“, fuhr eine andere Frau dazwischen, „red’ nicht so unsinniges Zeug daher.“
Barbara mühte sich zu verstehen, was diese Frau nun sagte, denn die Geräuschkulisse der Stube schwoll an. Zu ihrer mäßigen Erleichterung hörte sie etwas von einer stattgefundenen Nottaufe heraus. Von einem verstorbenen Säugling zu erfahren, war beinahe alltäglich, aber gerade jetzt erschien das Barbara wie ein böses Omen. Ein junger Bursche stand plötzlich vor ihr und zog sie an den Armen so überraschend schnell hoch, dass sie verdutzt aufstand.
„Los, komm, tanzen!“
Sie schüttelte den Kopf und wollte sich wieder setzen, aber er zerrte sie von der Bank fort. „Du stickst doch da sowieso nicht mit. Ich hab’s genau gesehen.“
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