1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Barbara dachte an Franz, als der Bursche sie wie eine Puppe durch die Stube führte. Sie schaute sich um und suchte sein Gesicht unter all den im Alltag so bekannten und jetzt so fremden.
„Bist nicht oft hier“, stellte der Bursche fest und drückte sie derb an sich. „Bist wohl lieber an verschwiegenen Plätzen, aber auch nicht ganz allein. Glaub’ bloß nicht, dass man dort immer ungesehen bleibt. Wer’s heimlich tut, der’s Unrecht sucht.“
‚Ich hab kein Unrecht getan’, dachte Barbara, brachte aber nichts heraus. Erneut musste sie an das tote Kind von Trines Enkelin denken. Dabei war ihr, als könnte der Herr Pfarrer doch recht damit haben, wenn er in der Spinnstube eine Lasterhöhle vermutete. Düsterer als sonst erschien sie ihr plötzlich, viel zu düster zum Spinnen und Sticken. Mit einer Kraft, die den Burschen überraschte, riss Barbara sich von ihm los, so dass er ihr nur verblüfft nachsehen konnte.
Wie ein Vogel im Käfig, der mit seinen Flügeln überall anstößt, torkelte sie durch den Raum und traf auf missbilligende Gesichter. Sie brachte selbst kein Wort heraus und wünschte doch, jemand würde etwas zu ihr sagen, irgendwas. Aber ringsumher las sie nur Anklage aus stummen Mienen.
„Bärbel, Bärbel, ich bin’s!“ Franz musste sie erst an den Schultern rütteln.
„Lass uns gehen, Franz, schnell.“ Barbara sah, dass seine Stirn von aufgekratzten Pickeln übersät war, klammerte sich an seinen Ärmel und zog ihn zur Tür.
„Jetzt gleich – zusammen? Das wird auffallen.“
Sie achtete nicht auf das, was er sagte, strebte nur fort. Erst dort, wo das Neue Kirchgässle wieder die Ufermauer entlangführte, konnte er ihr Einhalt gebieten. Sie atmete hastig, und ihr Herz flatterte. „Franz, wohin warst du so lange verschwunden?“
„Zwei aus der Burschenschaft haben mich nicht mehr zu dir lassen wollen und mit allerlei Fragen bedängt.“
„Franz, bring’ mich schnell heim, bitte. Ich hab so ein scheußliches Gefühl.“
Der Mann trat von der Ufermauer weg und warf einen Blick zurück. Er glaubte, dass eben die Tür zur Spinnstube zufiel, verschwieg es aber Barbara. „Wir hätten uns nicht so rasch davonmachen sollen. Das missfällt ihnen erst recht.“
Barbara war inzwischen weitergegangen. „Ich hab es nicht mehr ausgehalten, Franz. Sie haben alle so merkwürdig auf mich geschaut.“
„Das gehört zu ihrer Prüfung“, erklärte Franz. „Sie wollen sehen, ob du ihren prüfenden Blicken standhalten kannst. Wenn nicht, so werten sie das als Zeichen für ein schlechtes Gewissen.“
„Komm schneller Franz. Mir wird immer banger zumute.“
„Nicht laufen, Bärbel. Das wirkt gerade verdächtig, oder musst du ein schlechtes Gewissen haben?“
Das junge Mädchen blieb stehen. „Ach, urteile selbst, ob ich eines haben muss. Du warst ja bei allem dabei.“
Franz ließ besorgte Blicke die Fachwerkfassaden entlangschweifen, die den Marktplatz umschlossen, aber nirgendwo schien sich etwas zu rühren. Die Häuser hatten ihre Augen fest verriegelt vor der Außenwelt, und alle Kerzen waren gelöscht. Trotzdem – Barbaras ungutes Gefühl steckte ihn an, und er schaute auch in die klaffende Lücke zweier Häuser. „Franz, mir ist, als wollten diese feinen Häuser auf mich herabstürzen.“
„Dir ist nur schwindlig von der Aufregung, Bärbel.“ Er wollte sie stützen, doch sie wehrte ab. „Gib’ ihnen nicht noch mehr Nahrung für schlechte Gedanken.“
„Es ist niemand da, Bärbel. Keiner sieht uns.“
„Es ist immer jemand da, der einen sieht.“ Sie deutete zurück auf die Lücke zwischen den Häusern.
„Das ist nur das Vieh unten im Stall, Bärbel.“
„Mag sein“, räumte das Mädchen ein. „Vielleicht hat es aber auch was gehört und ist erschrocken.“
Begleitet von gemischten Gefühlen, bogen sie wieder in die Büßergasse ein und gingen auf die Brücke zu. Barbara blieb stehen. „Ich trau’ mich nicht weiter durch die finstere Gasse. Ich höre schon wieder was.“
Franz redete ihr zu. „Wir sind doch gleich drüben. Es ist nur der Fluss, der dir in den Ohren rauscht.“
„Und wenn...“ Barbara schüttelte den Kopf. „Ich muss plötzlich daran denken, wie ich damals hier mit dem Vater durchgelaufen bin, an seiner Hand dem Wagen mit dem Verurteilten nach. Ich war noch so klein, und so war mir nicht klar, was geschehen würde. Zuerst hab ich nur auf die wunderschön glänzenden, roten Pluderhosen des Scharfrichters geschaut und dann – auf dem Richtplatz , waren sie bespritzt vom Blut.“
Franz nickte. „Ich hab so was auch schon einmal miterlebt, als ganz junger Bursche. In die erste Zuschauerreihe hab ich mich gedrängelt. Als mir dann übel geworden ist, wollte ich es den anderen Burschen nicht zeigen und hab mich heimlich davongemacht. Die Leute haben später viel erzählt, dass sie den Scharfrichter beinahe niedergemetzelt hätten. Ein Stümper soll er gewesen sein und auch noch zu viel Geld gekostet haben.“
„Sei still Franz. Mit Reden über solche Scheußlichkeiten könntest du dich bei meinem Vater einschmeicheln. Der führt sie gern abends im Wirtshaus, wie ich gehört hab.“
„Du als Jungfer brauchst sie dir ja nicht anzuhören.“ Er griff nach Barbaras Hand. „Nun gehst du geschwind mit mir hier durch.“
Von der Mauer verborgen, gluckste und rauschte das Wasser. „Dorthin gehen wir, von wo er gekommen ist“, bemerkte Barbara. „Fast alle kommen sie von drüben, die Spitzbuben. Hörst du Franz, das Wasser flüstert.“
„Still Bärbel, jetzt ist es nicht das Wasser.“ Der Mann verharrte und verlangte seinen Augen ab, die Unebenheiten des Mauerwerks zu erkennen. Im fahlen Mondlicht schien es ihm, als habe sich dort ein Schatten abgezeichnet.
Barbaras Knie zitterten. Ein Eindruck blitzte in ihr auf. Nur einmal hatte sie sich damals von den Pluderhosen des Scharfrichters losgerissen und hoch zum Wagen geschaut, worauf der Delinquent mit zitternd eingeknickten Knien stand.
Sie drängelten, schoben einander und rückten voran. Sie brüllten sich ihre Stimmen heiser und sprühten sich ihren Atem in die Nacken. Das Mondlicht hatte ihre schäbige Kleidung verzaubert, breitete über alle seinen Silberschleier aus glitzernden Punkten. Und inmitten dieser Armee silberner Kämpfer war er, Martin Heiliger, um sie, seine Bärbel, zurückzuerobern.
Grausam hatte man sie ihm entrissen. Immer seltener konnte sie für kurze Zeit ihrem neuen Herrn entfliehen und zu ihm kommen, doch war sie niemals mehr dieselbe. Ein anderes Licht brannte in ihren Augen und trieb sie bald wieder fort. Nie sprach sie davon, wie es sich eben nicht ziemt, solches in den Mund zu nehmen. Sie sprach die vertrauten Worte und sang die gleichen Lieder. Aber wenn kein anderer es hörte – er hörte es heraus, das Verlangen nach dem Bösen. Martin wusste, sie selbst trug keine Schuld daran, denn wie hörte er die Erwachsenen reden: „Das Weib ist schwach und verführbar – dem Teufel untertan.“
Nun war Martin ausgezogen, um sie zu retten, und die ganze Stadt stand ihm bei. Noch war es Zeit, noch hatte sie den Bund nicht geschlossen. Doch als wäre sie sein Weib, sah er sie plötzlich neben ihrem Verführer stehen und erkannte ihn. Sah sie denn nicht, mit wem sie da ging?
„Bärbel!“, rief Martin, „kehr’ um zu mir.“ Wie kräftig seine Stimme klang, wie die eines erwachsenen Mannes. Und dennoch schien sie ihn nicht zu hören, sah nicht einmal in seine Richtung. Seine Gefolgsleute begannen die Trommeln zu schlagen, die Sackpfeifen zu blasen und die Schellen zu schütteln, dass die Stille der Nacht zerriss. „Bärbel!“, schrie Martin und erschrak. Seine Stimme – sie war wieder die Stimme eines Knaben. Der Teufel musste sie verzaubert haben. Martin verstummte. Er glaubte gefallen zu sein, richtete seinen Oberkörper auf und lauschte dem Getöse, das durch seine Ohren schrillte. Ein Schnarchen und Stöhnen mischte sich hinein. Neben sich sah Martin jemanden liegen und erkannte den Hausknecht. Der war also auch mit dabei, obwohl er sonst nie zu ihm hielt, ihn gar nicht ernst nahm.
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