„So, nachdenken.“ Das klang, als wäre es höchst ungewöhnlich, dass ein kleines Mädchen nachdachte. „Worüber denn?“, wollte die Wagnerin wissen.
„Ich weiß nicht, worüber.“ Anna senkte beschämt den Kopf, doch die Mutter gab sich zufrieden mit dieser Antwort. Ja, sie wirkte geradezu beruhigt.
„So töricht kann eben nur ein Weib daherreden.“ Wagners Schritte knarrten über den Holzboden. Die Tür quietschte und fiel ins Schloss.
„Mutter, braucht Ihr mich nicht, um das Vieh auf die Weide zu führen?“ Angst kratzte in Annas Kehle.
Doch die Wagnerin wiederholte, was ihr Mann bereits angeordnet hatte, dass Anna zur Schule gehen müsse, weil der Pfarrer es wünsche.
„Und Ihr, Mutter, wollt Ihr nicht lieber, dass ich das Vieh hüte?“
Die Wagnerin wandte sich ab. „Was ich will, tut nichts zur Sache.“
„Ich kann so schlecht reden in der Schule.“ Auch jetzt kratzte Annas Stimme wie zum Beweis dafür. „Manchmal will mir kein Wort herauskommen.“ Sie steckte den letzten Löffel Suppe in den Mund, und die Mutter schob ihr noch ein Stück Brot zu. „Hier, iss und sei still. Du sollst nur aufsagen, was im Katechismus steht, sonst schweig. Dann wird der Herr Pfarrer zufrieden sein und dich wieder aus der Schule herauslassen.“
Anna kaute lange auf dem Brot herum, bevor sie es schlucken konnte.
Der Junge stand vor der Tür zu jenem Raum, der, wie sein Vater zu sagen pflegte, eine Art Vorzimmer zur eigentlichen Menschwerdung darstellte. Heinrichs Blick glitt allerdings den von wenigen Patrizierpalästen gesäumten Schulberg hinab. Unten sah er ein paar Köpfe auftauchen und wieder verschwinden wie hinter einer Welle.
Er wünschte, die Straße würde sich in einen glitschigen Wurm verwandeln, der sich wand und sie nicht hinauf ließ. Verschlingen sollte er sie nicht. Das wäre dann doch ein zu sündhafter Wunsch, zumal Heinrich als Pfarrerssohn natürlich allen Kindern sündenfrei vorauswandeln sollte. Die anderen schienen zu glauben, dass er das immer schaffte.
Heinrich seufzte. Wenn sie doch nur ein bisschen an ihm zweifeln würden, nur ein kleines bisschen. Es wandelte sich so einsam ganz vorn an der Spitze. Nicht selten bekam er auch noch empfindliche Sticheleien in den Rücken und durfte sich nicht einmal nach den anderen umdrehen.
So, dass keines es richtig merkte, sollte schon ein zukünftiger Hirte Gottes seine „Schäfchen“ im Auge behalten. Wer sich stets beobachtet fühlte, der lernte nicht wirklich, den Versuchungen der Sünde zu widerstehen und war nicht gottgewollten Prüfungen durch den Teufel ausgesetzt. Er lebte in der Gefahr, christlichen Lebenswandel vorzuheucheln. Irgendwann, sobald sein Hirte ihn doch einmal einen Moment aus den Augen ließ, drohte er Satan auf einen Schlag rettungslos zu verfallen, weil er überbehütet und verweichlicht war.
So hatte Vater Lammer es seinem Sohn eingebläut, wenn nötig, auch mit der Rute.
Heinrich war inzwischen zu einem verschlagenen Bürschchen von zwölf Jahren herangewachsen. Nun gut, er hielt seine verstohlenen Blicke auf die anderen Kinder. Wehe dem, der sich von ihm unbeobachtet glaubte, etwas anstellte und sich daraufhin weigerte, mit ihm zu spielen.
Geschwind schlüpfte Heinrich durch die Tür, bevor eines der herannahenden Kinder ihn sehen konnte. „Jungfer Rotnagel, die Mägdlein kommen.“
In der Ecke neben dem Fenster, vor der Tafel, erwartete Reinhild Rotnagel ihre Schülerinnen, das Gesicht so ausdruckslos wie immer. Das Leben war an ihr vorbeigegangen, ohne sie merklich zu streifen – ein ungelebtes Leben. So kam es, dass die üblichen Altersspuren seltsam deplatziert auf ihrem Gesicht wirkten. Irgendwann würde sich der Tod gnädig ihrer annehmen, sie zum ersten Tanz ihres Lebens auffordern und sich mit ihr vermählen. Bis dahin war sie entschlossen, sich ein erfülltes Leben im Jenseits zu verdienen. Die Kindlein mussten vorbereitet werden auf ein Dasein zum Wohle der Gemeinschaft. Manch eines irrte noch im Glauben umher, es dürfe seinem Eigenwillen folgen, wenigstens außerhalb des Schulhauses. Diese Irrlehre auszumerzen, die auch sie einst bedrohte wie jedes Kind, war ihre Lebensaufgabe geworden. Konnte es etwas Schöneres geben, als wachsweiche Kinderseelen nach dem Vorbild Gottes zu formen, auf dass sie ihm zu Ehre leuchteten gleich Kerzen? Wenn Reinhild sich dabei gemartert fühlte, nahm sie es hin wie einen Bonus auf dem Weg zur Seligkeit.
Nach der Größe geordnet, traten die Mädchen in ihren Schulraum, zuletzt die Kleinsten, jedes mit unbewegtem Gesicht, die Mundwinkel herabgezogen. Jungfer Rotnagel hatte die Ordnung so eingeführt und wachte sorgsam darüber. Hinter ihrem trüben Blick lauerte die Gefahr wie ein Hecht im Karpfenteich, der jederzeit vorschnellen konnte.
Die Kinder sortierten sich an ihre Plätze, wo sie stocksteif zu morgendlichem Gruß und Gebet stehen blieben. Jungfer Rotnagel erteilte den Befehl zum Setzen und ließ ihren Blick durch die Bänke schweifen. Baumelnde Beinpaare, auch die der Jüngsten, erstarrten augenblicklich.
Befriedigt nickte die Lehrerin. Dann stieß ihr Blick auf eines der geradeaus gerichteten Augenpaare.
„Anna Wagner.“ Bedächtig wiegte Jungfer Rotnagel den Kopf. Anna stand auf und erwartete, dass sie vortreten müsste, einige Tatzenschläge empfangen für ihr Fehlen oder zumindest eine Strafpredigt. Waren ihre Ohren taub geworden, oder ruhte Jungfer Rotnagels Blick noch immer still auf ihr? So hatte sie Annas Namen noch niemals ausgesprochen, fast feierlich, wie bei einem wichtigen Anlass – keinem erfreulichen allerdings. Tief in Anna rief er eine Erinnerung an. Aber sie folgte nicht, blieb dort verborgen. Anna spürte nur ein flaues Gefühl von Schuld in sich aufsteigen. Sie verstand nicht, warum. Beinahe hätte sie nachgesehen, ob irgendwo an ihrem Kleid Schmutz klebte.
„Anna Wagner“, wiederholte die Lehrerin in gleichem Tonfall, „was hat dich in letzter Zeit vom Unterricht fern gehalten?“
„Iiich haaabe uunser Vieh hü-hüüten müssen.“ Endlich waren die Worte heraus. Warum brauchte sie so lange für diese einfache Antwort? Jungfer Rotnagel stellte sich dieselbe Frage. Der Verstand antwortete ihr, dass aus dem Mädchen die Wahrheit sprechen müsse – aber die Wahrheit, gekleidet in den Klang der Lüge? „Warum musst du stottern, wenn du die Wahrheit sagst?“
Anna mühte sich zu antworten, doch was sie sagen wollte, erschien ihr zu unglaubwürdig. Hatte sie gerade gestottert? Es war ihr nicht aufgefallen.
„Nun?“ Die Lehrerin räumte ihr weitere qualvolle Bedenkzeit ein. „Ist dir jetzt die Stimme gänzlich abhanden gekommen?“
Ein bislang unterdrücktes Kichern platzte hinter der auf den Mund gepressten Hand der frechen Paula hervor. Die Mundwinkel der anderen hoben sich ein wenig.
„Sage mir, was Gott im achten Gebot von dir fordert.“
Anna musste daran denken, dass sie nicht stottern durfte und konnte nur dastehen mit offenem Mund.
„Ist dir denn alles abhanden gekommen? Paula“, forderte die Lehrerin die immer noch Kichernde auf, „nenne du Anna Gottes achtes Gebot.“
Das Mädchen schoss in die Höhe und sprudelte heraus: „Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten!“
Anna zitterte. Hatte sie das etwa getan? Hatte sie jemanden verleumdet?
„Und was heißt das?“
Die Frage war eigentlich an Anna gerichtet, doch Paula konnte ihren Eifer so schnell nicht stoppen. „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen oder verleumden, sondern jederzeit die Wahrheit reden und des Nächsten Ehre und guten Namen retten und bewahren.“
„Setz’ dich, Anna“, gebot die Lehrerin.
Anna hätte nun doch etwas sagen können, dass sie ihr Stottern nicht bemerkt hätte, dass sie die Wahrheit gesprochen hätte. Sie holte gerade Luft. Doch Jungfer Rotnagels Befehlen war nichts entgegenzusetzen, auch nicht, wenn es angebracht war.
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