So weit Rudolf Steiner. Man kann ergänzend hinzufügen, dass jedes der soeben genannten Gegensatzpaare selbst erst ein Ergebnis der Beobachtung und des Denkens ist. Wegen der zentralen Bedeutung dieser Grundtatsache erlauben Sie mir eine nützliche und einprägsame terminologische Kurzfassung, die ich von jetzt an verwenden werde: ich nenne diese ursprüngliche Ausgangssituation „Denkbeobachtung“, um beide Elemente in einem einzigen Wort festhalten zu können. Damit besitzen wir eine praktikable Bezeichnung für das methodologische Urphänomen aller Wissenschaft und Philosophie, der Naturwissenschaften wie der Geisteswissenschaften. Und dieses Urphänomen ist von den Naturwissenschaftlern weit besser in Rechnung gestellt worden als von den Geisteswissenschaftlern. Daher die großen theoretischen und praktischen Erfolge, mit denen die materiologischen Erkenntnismethoden aufwarten können. Gewiss ist die Untersuchung so universeller und immer noch unbestimmter Phänomene in den sog. „humanities“ (Geist, Seele, Geschichte, Gesellschaft usw.) weitaus komplexer und schwieriger als alle materiellen Prozesse zusammen, die wir bis dato kennen, aber trotzdem bleibt festzuhalten, dass die Geisteswissenschaften eine methodologische Weiterentwicklung zum „experimentell“ orientierten Denken (zum „aktologischen Versuch“) auf Gebieten, die dafür offen stehen, nicht in Angriff genommen haben. Was im Wege stand, war, wie bereits gesagt, die axiomatologische, dialektische und nicht selten die bloß verbalistische Interpretationskunst, die immer wieder ins Schwimmen geriet, und dann die wachsende Tendenz zur „Logifizierung“ aller Wissenschaftsbereiche, ein Vorgang, der sich dann zu weltfremden Glasperlenspielen verengt, wenn der Mensch als Objekt der Erkenntnis eliminiert wird. Das Urphänomen der „Denkbeobachtung“, von dem wir ausgehen, zeigt einen grundverschiedenen Ansatz: ein lebendiges, aber analysierbares Aktgewebe, das wir nach allen Seiten handhaben können, also geistige Tätigkeiten, die sich grenzenlos erweitern und variieren lassen. An diesem Anfang steht kein Prinzip, kein Axiom, keine Kategorie und schon gar keine Hypostase, wir gehen von einer durchschaubaren Tätigkeit des menschlichen Geistes aus, die wir logisch und praktisch in den Griff bekommen wollen. Dabei wird sich zeigen, ob diese „Seelischen Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“ nur in die empirische Psychologie gehören oder darüber hinaus auch epistemologische Qualitäten aufweisen.
9. Das Denken als Objekt der Beobachtung
Wir wissen, dass wir denken, und wissen, dass wir gedacht haben. Was wir das Urphänomen der Denkbeobachtung nennen, kann selbst nichts anderes als eine denkend herbeigeführte und begriffene Beobachtung sein. Es erweist sich als sinnlos, von „Fakten“ zu sprechen, deren Vaterschaft nicht im Denken liegt. Damit ist der Angriff auf den „Mythos des Gegebenen“ zunächst gerechtfertigt. Gehen wir so weit, das Denken selbst zum Objekt der Beobachtung zu machen, dann geraten wir in die berühmte „Zirkularität“ des Denkens über das Denken, vor der wir kapitulieren müssen. Wir leben immer in Begriffen und Begriffsrelationen: auch „denken“ und „beobachten“ sind Begriffe, die wir miteinander in Verbindung bringen müssen, wenn wir Erkenntnisse erlangen wollen. Damit werden alle „Fakten“ zu Theoremen, und diese Theoreme treten uns wieder als „Fakten“ gegenüber - zumeist aber so, dass wir das ideelle Element verschlafen. Wenn wir es trotzdem zur Kenntnis nehmen, wächst die Verwirrung ins Ungemessene, und wir werden Verständnis dafür aufbringen, dass sämtliche erkenntnistheoretischen Bemühungen in Verruf geraten sind. Unlösbare Probleme soll man liegen lassen.
Es könnte aber sein, dass diese Probleme auch noch eine andere, besser zugängliche Seite zeigen, die bisher so gut wie nicht beachtet worden ist - und zwar aus dem scheinbar so einleuchtenden Grunde, weil man nicht in so etwas wie den „Psychologismus“ der Jahrhundertwende zurückfallen wollte. Dagegen ist nichts zu sagen. Die damalige Form des „Psychologismus“ ist zweifellos überholt und unfruchtbar. Aber es gibt andere Wege, die unmittelbar in das Erkenntnisproblem hinüberleiten und einen Zusammenhang aufschließen, der uns weiterhelfen kann. Da ist zunächst das Problem der Beobachtbarkeit des Denkens, von dem jeder weitere Schritt abzuhängen scheint: man kann nichts erkennen, das uns nicht in irgendeiner Weise als Wahrnehmbares gegenübertritt. Um diese Überlegung kommt niemand herum. Aber es stellt sich hier die Frage, ob wir deshalb auch schon berechtigt sind, das weitere Nachforschen aufzugeben. Gehen wir diesem Problem etwas nach.
Sie alle wissen, dass das Denken kein Gegenstand ist, den man wie eine Blume betrachten und begutachten kann. Schon der erste Schritt in diese Richtung führt ins Nichts. Rudolf Steiner äußerst sich dazu mit großem Nachdruck, um klarzumachen, dass wir uns in einer unmöglichen Situation befinden, wenn wir das Denken beobachten wollen. Er äußert sich dazu folgendermaßen:
„Ich kann mein gegenwärtiges Denken nie beobachten; sondern nur die Erfahrungen, die ich über meinen Denkprozess gemacht habe, kann ich nachher zum Objekt des Denkens machen. Ich müsste mich in zwei Persönlichkeiten spalten: in eine, die denkt, und in die andere, welche sich bei diesem Denken selbst zusieht, wenn ich mein gegenwärtiges Denken beobachten wollte. Das kann ich nicht. Ich kann das nur in zwei getrennten Akten ausführen. Das Denken, das beobachtet werden soll, ist nie das dabei in Tätigkeit befindliche, sondern ein anderes. Ob ich zu diesem Zwecke meine Beobachtungen an meinem eigenen früheren Denken mache, oder ob ich den Gedankenprozess einer anderen Person verfolge, oder endlich, ob ich, wie im vorigen Falle mit der Bewegung der Billardkugeln, einen fingierten Gedankenprozess voraussetze, darauf kommt es nicht an. Zwei Dinge vertragen sich nicht: tätiges Hervorbringen und beschauliches Gegenüberstellen.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. 15. Auflage Dornach 1987, S. 43)
So weit Rudolf Steiner. Sie können nun selbst die einzig mögliche Konsequenz aus diesen zweifellos richtigen Überlegungen ziehen. Wenn dem so ist, dann werden wir uns den Resultaten des Denkprozesses widmen müssen, also den „Erfahrungen“, die uns begegnen, wenn wir feststellen wollen, was übrigbleibt. Wir werden also auf zwei grundverschiedene Elemente verwiesen, die aber zwangsläufig miteinander in Verbindung stehen müssen: auf das Denken, von dem ich weiß, dass ich es tätig vollziehe, und auf das Ergebnis dieser Arbeit, auf das Endprodukt, dessen ich mir bewusst werde, auf die Eigengeschöpfe, die mir so gegenübertreten, als seien sie dem Haupte des Zeus entsprungen. Von diesen beiden Elementen können wir nur das eine beobachten, das andere entzieht sich unserem Zugriff. Alles, was uns sonst von „innen“ und „außen“ entgegentritt, hat zweifellos, wenn auch in verschiedenen Formen der Klarheit, den Charakter der Beobachtbarkeit. Nur das Denken ist die große Ausnahme. Damit entzieht sich die Denkbeobachtung der Denkbeobachtung. Das scheint ein endgültiges Ergebnis unserer Überlegungen zu sein. Die Frage ist nur, ob wir dabei stehen bleiben dürfen.
10. Die intermittierende Denkbeobachtung
Wenn uns nur das zweite Element des Denkprozesses in Gestalt fertiger Resultate gegenübertreten kann, dann wird uns nichts anderes übrigbleiben, als sie etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Es handelt sich also um das schwer analysierbare Phänomen der „Gegenüberstellung“, wie wir es im Anklang an Rudolf Steiners Formulierungen genannt haben. Hören wir zuerst ihn selbst:
„Unser Denken ist, besonders wenn man seine Form als individuelle Tätigkeit innerhalb unseres Bewusstseins ins Auge fasst, Betrachtung, das heißt es richtet den Blick nach außen, auf ein Gegenüberstehendes. Dabei bleibt es zunächst als Tätigkeit stehen. Es würde ins Leere, ins Nichts blicken, wenn sich ihm nicht etwas gegenüberstellte ... Dieser Form des Gegenüberstellens muss sich alles fügen, was Gegenstand unseres Wissens werden soll. Wir sind unvermögend, uns über diese Form zu erheben. Sollten wir an dem Denken ein Mittel gewinnen, tiefer in die Welt einzudringen, dann muss es selbst zuerst Erfahrung werden. Wir müssen das Denken innerhalb der Erfahrungstatsachen selbst als eine solche aufsuchen.“ (Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Dornach 7. Auflage 1979, S. 29f.)
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