Der Schichtführer stand oben an der Treppe und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Du bist zum Arbeiten eingestellt, nicht zum faul herumstehen und frische Luftschnappen!“
„Ich, ich bringe doch nur den Müll raus!“, entschuldigte sich Tom, obwohl er wusste, dass der Mann Recht hatte.
„Du musst schon die Säcke voll machen! Du rennst ja dauernd mit halbleeren Säcken runter.“
„Ich soll doch den Müll rausbringen!“, verteidigte sich Tom kleinlaut.
Der Vorarbeiter schüttelte den Kopf. „Quatsch! Du rennst dauernd unter dem Vorwand raus, den Müll runterbringen zu wollen. Aber in Wirklichkeit drückst du dich vor der Arbeit. Du erfüllst nicht das, wofür du bezahlt wirst, Tom! Wenn das so weiter geht, werde ich dich rauswerfen müssen. Dann stehst du ohne Arbeit da. Das willst du doch nicht, oder?“
Tom schüttelte den Kopf und ging die Treppen nach oben zu dem Schichtführer. Er blieb bei ihm stehen. „Kommt nicht wieder vor!“, versprach er.
„Ich fürchte doch!“, wusste der es besser.
Tom sah ihn fragend an. „Wie meinen Sie das?“
„Du kommst mit den Arbeitsbedingungen nicht so gut klar, stimmt´s?“
Tom nickte mit einem Anflug von Traurigkeit.
„Du kommst doch vom Bauernhof, da habt ihr sicher auch geschlachtet. Da musst du doch die Schlachterei gewöhnt sein. Das kann dir nichts ausmachen, dachte ich“, meinte der Schichtleiter.
„Nein, nein, das ist es nicht“, bestätigte Tom. „Aber ich komme vom Land und habe mein Leben lang draußen verbracht. Und nun das hier: Der Gestank und die Hitze und man darf kein Fenster öffnen. Und dann noch alles zusammen. Da muss ich mich erst noch dran gewöhnen“, erklärte er mit gesenktem Kopf. Dann sah er den Schichtführer schnell an. „Aber ich werde mich schon dran gewöhnen!“, versprach er.
„Da bin ich mir nicht so sicher!“, entgegnete der Mann.
„Doch bestimmt!“, versicherte Tom. „Ich bin jung und gesund. Das schaffe ich schon!“
„Das glaube ich dir gerne!“ Er sah Tom kritisch an. „Ich frage mich, ob du es wirklich willst!“
Tom nickte, weil er wusste, dass der Mann Recht hatte. „Ich werde es versuchen, bestimmt!“
„Ja!“, meinte der Mann nachdenklich.
„Ich brauche das Geld!“
Der Schichtführer schwieg kurz und überlegte, warum sich dieser starke und kluge Junge das antat. „Eine Chance bekommst du noch, Tom!“ Er sah ihn nachdenklich an. „Sonst muss ich dich entlassen. Auch wenn ich dich verstehe.“
„Danke, Chef!“, meinte Tom und eilte zurück an die ungeliebte Arbeit.
16
„Du musst schon schneller arbeiten!“, rief die Aufseherin Sofia zu und sah sie mit strengem Blick an. „Und ordentlicher! Das ist alles zu unsauber verarbeitet, alles zu ungenau. Das ist einfach nicht brauchbar, damit kann man nichts anfangen!“
Sofia saß an einer Nähmaschine und sah verlegen und auch verängstigt zu ihr auf.
„Du hast doch wie alle andern eine genaue Einweisung erhalten, oder warst du da etwa krank?“
„Ich nicht krank!“, rief Sofia in gebrochenem Deutsch.
„Ach, die Neuen, die verstehen doch gar nichts!“, rief die Aufseherin ärgerlich. „Da gibt man euch die beste Einweisung, die man sich vorstellen kann und dann habt ihr doch nichts kapiert, weil ihr die Sprache nicht versteht.“ Sie hielt inne und sah Sofia wieder streng an.
„Nicht krank!“, wiederholte Sofia, obwohl sie ahnte, dass sie damit gar nicht das Problem traf, das die Aufseherin ansprach.
Diese trat an die Nähmaschine heran, riss den Stoff heraus und hielt ihn Sofia hin. „Ungenau, unsauber, unbrauchbar! Du musst dir schon mehr Mühe geben! Du musst schon genauer arbeiten!“
Sofia verstand und nickte ängstlich.
„Du bist hier nicht in Albanien, sondern in Deutschland. Da musst du genau und sauber arbeiten, hörst du?“ Sie begann, alles was Sofia genäht hatte, wieder aufzutrennen.
Sofia nickte und schlug die Augen verlegen nieder.
Da sah sie die Aufseherin mit einem bedauernden Blick an. Dann drückte sie ihren Kopf mit ihrer Hand nach oben und lächelte sie an. „Na komm, ich werde dir nochmals zeigen, wie es geht. Du bist ja erst seit wenigen Tagen da. Ich kann es zwar nicht so gut, wie der Mann, der es euch erklärt hat. Das war nämlich ein echter Modeprofi. Aber vielleicht hilft ja ein bisschen Einzelunterricht!“ Sie zog sie von ihrem Stuhl herunter und setzte sich selbst an die Nähmaschine. „Schau, so geht das!“
Sofia stand aufmerksam daneben.
Die Aufseherin führte ihr ganz langsam vor, wie sie es machen sollte und sah bei jedem Arbeitsschritt zu ihr, um sich zu vergewissern, ob sie aufpasste und es verstanden hatte.
Sofia beobachtete sie genau und nickte jedes Mal, als sie zu ihr zur Kontrolle hochsah.
Schließlich übergab die Aufseherin die Nähmaschine wieder an sie und Sofia setzte sich an die Arbeit.
„Na also! Das ist ja schon viel besser, das ist ja schon brauchbar. Weiter so!“, beurteilte die Aufseherin nun ihre Arbeit und klopfte ihr auf die Schulter.
Sofia sah sie dankbar an, dann arbeitete sie weiter.
17
„Wo, wo bin ich?“, stammelte Tom und sah sich verwirrt um.
„Du dich kurz schlafen gelegt, du Weichei!“, rief ein Mann und lachte laut auf. „Du schnell wieder an Arbeit, du Faulpelz!“
Tom erkannte die Stimme des Mannes, mit dem er an einer Maschine arbeitete und die Schweinehälften weiter zerlegte. Sein Name war Nicolai und er kam, wie die meisten der Arbeiter, aus Rumänien.
„Am besten du gehst wieder an die Arbeit!“, wies ihn ein anderer Mann zurecht.
Wie durch einen Schleier erkannte Tom den Schichtleiter vor sich und dahinter einige Schlachter.
„Aber Faulpelz muss auch kommen!“, warf Nicolai in gebrochenem Deutsch ein. „Ich mache schon ganze Zeit Arbeit von dem Kerl mit!“
„Verschwinde!“, wies ihn der Schichtleiter nochmals zurecht.
Tom war inzwischen wieder klar im Kopf. Er erkannte, dass er auf dem Boden lag, bemerkte die Blicke der Arbeiter und sprang deshalb schnell auf. Wieder wurde ihm kurz schwindelig.
„Was, was war los?“
„Du bist wohl ohnmächtig geworden und hingeflogen!“, erklärte der Schichtarbeiter.
„Verdammt, verdammt!“, ärgerte sich Tom. Er begriff, dass er wohl die Produktion durch seine Ohnmacht behindert hatte. „Kommt nicht wieder vor!“, versicherte er und wollte an die Maschine.
„Sollte es nicht, sonst bist du hier raus.“
„Kommt nicht wieder vor!“, versicherte Tom.
„Ich bin mir nicht so sicher!“, schätzte der Schichtleiter. „Geh mal zum Arzt und lass es abklären!“
„Tue ich!“, versprach Tom und wollte an ihm vorbei.
„Ich weiß, du brauchst das Geld!“, erklärte ihm der Schichtleiter. „Aber ganz ehrlich: Du kostest uns Geld. Das kann ich nicht mehr lange so zulassen!“
„Verstehe!“, meinte Tom und ging an die Arbeit.
18
„Sieh nur, wie viel Geld ich im ersten Monat verdient habe!“, rief Sofia freudig aus, setzte sich auf Alwinas Schlafpritsche, die wie die ihre im großen Schlafraum der Organisation stand und zeigte ihr die Scheine.
„Ja, es ist viel Geld, aber wenn sie uns nicht einen großen Batzen für das Essen, Trinken, Wasser, Strom und dieses komfortable Bett …!“ Sie zeigte mit leicht verärgertem Blick auf ihr Notbett. „… abgezogen hätten, wäre es noch um einiges mehr!“
Sofia dachte nach. „Natürlich, da hast du Recht. Ich habe es auch nachgerechnet. Das Essen und die Unterkunft sind wirklich schlecht. Und sie haben dafür viel Geld berechnet. Das stimmt schon. Aber es bleibt doch noch eine schöne Summe übrig. Ich habe jedenfalls viel mehr verdient, als ich dies in Albanien hätte tun können. Ich kann meiner Familie tatsächlich eine schöne Stange Geld schicken. Es ist so, wie versprochen. Ich kann meine Familie so unterstützen, dass sie es viel besser hat als vorher. Es ist alles so eingetreten, wie versprochen! Und die Arbeit ist sicher. Man braucht uns hier. Niemand wirft uns raus, solange wir unsere Arbeit erfüllen.“
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