Gaben, dachte Jena, ja, die sollte sie haben, das hatte man ihr bereits gesagt, nur leider hatte sie keinen blassen Schimmer welche das nun waren. Sie hatte bisher nicht feststellen können, dass sie irgendwie anders war, als zu dem Zeitpunkt, bevor sie erfahren hatte, dass sie die einzig wahre Auserwählte war. Sie war immer noch Jenna Drescher, 27 Jahre alt, Humanbiologin, momentan ohne Anstellung und frisch aus der Irrenanstalt entlassen.
„Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen“, erklang die Stimme des alterslosen Priesters aus dem Nirgendwo, „es wird alles gut gehen.“ Er tauchte aus der Dämmerung auf und trug ein Tablett mit zwei Tassen, einer Teekanne, einer Zuckerdose und einem Milchkännchen vor sich her, das er auf dem Tisch abstellte, als er bei ihr angekommen war. Er setzte sich ihr gegenüber, goss die dampfende Flüssigkeit in die Tassen, und reichte ihr eine. „Wichtig ist, dass Sie Fragen stellen, wenn Sie welche haben. Haben Sie keine Scheu, ich mache das nicht zum ersten Mal und ich weiß, wie ungewöhnlich Ihre Situation ist. Auch wenn Ihnen etwas auf dem Herzen liegt, wenden Sie sich an mich. Ich bin ein Fremder, noch, aber ich kann Ihnen versichern, ich kann mich in Ihre Lage hineinversetzen. Auch ich musste irgendwann feststellen, dass ich es mit Dingen zu tun habe, für die andere einen als verrückt erklären.“
Er hatte eine warme, angenehme, beruhigende Stimme. Jenna hatte ein gutes Gefühl bei ihm. „Es ist nur so“, begann sie, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, „dass ich keine Ahnung habe, was meine Gaben sind.“ „Sie werden sie noch erkennen. Die Gaben sind von Auserwählter zu Auserwählter unterschiedlich und zeigen sich, wenn man bereit dafür ist. Manche Gaben sind mentaler Natur, andere körperlicher. Viele haben mehr als nur eine. Sie, als einzig wahre Auserwählte, dürften über sehr starke Möglichkeiten im Kampf gegen das Böse verfügen. Warten Sie es ab, lassen Sie sich darauf ein, dann wird es funktionieren.“
O.K., also abwarten dachte Jen, während sie zusah, wie Pater Sebastian ein paar dicke Folianten auf den Tisch hievte, sodass dieser ächzte. „Keine Sorge“, sagte der Geistliche beruhigend, er hatte wohl ihren erschrockenen Blick gesehen, „die müsse Sie nicht alle durchlesen. Es wird vielmehr eine Mischung aus Studium und Gespräch werden. Während wir hier miteinander arbeiten, werden Sie feststellen, dass ich ein geweihter Priester der katholischen Kirchen bin, der die Arsaten unterstehen, jedoch auch Dinge von mir gebe, die Ihnen vielleicht ketzerisch vorkommen mögen. Das ist keine Rebellion, das ist lediglich ein Resultat aus dem was ich, und die anderen Brüder, im Laufe der Zeit erlebt haben und nicht als Wertung des Glaubens zu nehmen.“ Gut, Jen wollte beginnen und Pater Sebastian schwieg, vorerst.
Der Vormittag war anstrengend gewesen. Natürlich wusste sie, wie schwer lernen sein konnte, während ihres Studiums und auch danach, hatte sie mehr als genug Erfahrung damit gesammelt, aber hier war es etwas anderes. Jenna war in ein Universum abgetaucht, dessen Geschichte mit der christlichen Erschaffung der Welt begann, und das war eine ziemlich lange Zeit.
Sie hatte erfahren wer die Bruderschaft der Arsaten war. Menschen, unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Hintergrundes schlossen sich der Bruderschaft an. Sie war der katholischen Kirche, dem Vatikan, unterstellt. Es gab viele Orte, an denen die Arsaten vertreten waren und jedes Refugium wurde von einem Ältesten geführt, der für alles verantwortlich war. Unterschiedliche Ämter waren besetzt, vom Bibliothekar bis hin zum Koch und vor allem nicht zu vergessen, die Jäger.
Die Jäger hatten eine besondere Fähigkeit, sie hatten ein ausgeprägtes Gespür für das Böse und sie waren widerstandsfähiger, als normale Menschen, gegen dessen Angriffe, sowohl körperlich, als auch geistig.
Zum Teil waren schon ihre Vorfahren Jäger gewesen. Einige waren Nachfahren der Tempelritter, andere hatten Vorfahren, die bereits vor der Ausbreitung des Christentums gegen das Böse gekämpft hatten, und wieder andere hatten im Laufe ihres Lebens festgestellt, dass sie irgendwie anders waren und sich der Bruderschaft angeschlossen.
Es gab Geistliche unter ihnen und welche, die es eben nicht waren. Die Ordnung der Bruderschaft glich entfernt einem Orden, auch für Nichtgeistliche galt eigentlich das Prinzip des Zölibats, eigentlich. Pater Sebastian hatte es so beschrieben; man wollte verhindern, dass die Jäger angreifbar waren. Die Abkömmlinge waren nicht dumm, ganz im Gegenteil, und ein Mensch, den man liebte, wollte man um alles auf der Welt beschützen und brachte dadurch sich und andere und die Aufgabe, in Gefahr. Jenna hatte an Elias denken müssen, dem es genauso ergangen war. Ein Bruch des Zölibats führte jedoch nicht automatisch zu einem Ausschluss aus der Bruderschaft, anderes galt natürlich für die geweihten Mitglieder. Auch Elias war ja nicht ausgeschlossen worden, weil er eine Geliebte gehabt hatte, sondern wegen dem, was er nach deren Ermordung, durch Danjal, getan hatte.
Jenna hatte feststellen müssen, dass alles ein wenig vage war, erklärt hatte der Pater dies, indem er ihr klarmachte, wie umfangreich ihr Handeln war und das starre Regeln hier hinderlich waren.
Der Gegner der Arsaten war das Böse. Dämonen schickten ihre Abkömmlinge unter die Menschen, um Böses zu tun, um Tod, Gewalt, Hass, Zorn, Unglück und all das zu bringen. Gott schickte die Auserwählten und Jäger. Die Existenz eines Abkömmlings auszulöschen war einem Jäger nicht möglich. Er hatte aber die Kraft gegen die Abkömmlinge zu kämpfen und sie mit den unterschiedlichsten Mitteln unter Kontrolle zu bringen. Eine Auserwählte konnte einen Abkömmling jedoch endgültig vernichten. Auch sie hatten eine Verbindung zu dem Bösen. Und dann gab es eben die einzig wahre Auserwählte. Nur die einzig Wahre war in der Lage IHN endgültig zu vernichten.
Sehr zu ihrem Erstaunen musste sie hören, dass es nicht nur eine einzig Wahre gab, in der gesamten Geschichte der Menschheit und für alle Zeiten, sondern jede Generation eine hervorbrachte. Elias hatte es damals ganz anders formuliert, ebenso hatte er behauptet, ihr Kampf würde sich ausschließlich gegen Danjal richten. Pater Sebastian begründete es damit, dass es für Elias nur einen Gegner gab, weil sein Hass auf IHN so groß war, dass alle anderen ihm nicht wichtig erschienen. Und Jenna glaubte zu verstehen, warum er ihr hatte einreden wollte, dass sie die Einzige war, die IHM Einhalt gebieten konnte; hätte sie nämlich erfahren, dass die nächste Generation auch eine hervorbrachte, hätte die Gefahr bestanden, das Jenna sich nicht gegen Danjal wendete. Da sie ihn geliebt hatte, hätte sie es auf die nächste Generation abwälzen können. Sie konnte Elias verstehen, würde aber noch einmal mit ihm reden müssen.
Die Dämonen sandten ihre Abkömmlinge, Gott seine Auserwählten und Jäger und der Kampf begann. Die Abkömmlinge wurden nach ihrer Auslöschung durch Neue ersetzt, und ebenso war es mit den Auserwählten und Jägern, Neue kamen.
Jenna verbrachte die Mittagspause mit dem Pater. Sie aßen beide einen Salat und ein Pastagericht, welches in einem Speiseraum serviert wurde und hingen ihren Gedanken nach, eher sie hing ihren Gedanken nach.
„Warum macht ihr das?“, fragte sie den Geistlichen, als sie bei einem Kaffee saßen. Er schaute sie fragend an. „Na ich meine, ihr habt doch keine Chance. Das Böse kommt immer wieder, egal in welcher Form und ist unsterblich. Ihr seid Menschen und sehr wohl sterblich, ihr werdet ersetzt, wie ein Teil an einem Motor, das kaputt geht. Ihr kämpft für jemand anderen.“ Der Pater räusperte sich, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. „Ja, der Kampf scheint aussichtslos, jedoch nur, was den Sieg angeht. Wir, und damit meine ich zukünftig auch Sie, versuchen dem Bösen Einhalt zu gebieten. Würden wir es nicht tun, wäre die Menschheit verloren. Wir versuchen ein gewisses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, und unser Lohn ist der Dank Gottes. Oder für die weniger tief Gläubigen, eine gewisse Befriedigung etwas Gutes im Leben getan zu haben. Und Sie sollten unsere Möglichkeiten nicht unterschätzen.“
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