„Ich habe ihn trotzdem angesprochen, ihn gefragt, ob er neu sei, und er hat geantwortet, dass er nur jemanden beobachten würde.“ „Kam dir das nicht sonderbar vor?“, fragte Jen und wurde sich im selben Moment ihrer Worte bewusst. Sie war hier in einer Nervenklinik, was oder wer war hier denn nicht sonderbar? „Nein, er war eigentlich recht freundlich, hat mich nach meinem Namen gefragt und mir gesagt, dass du hier bald rauskommen würdest. Ich habe mich so für dich gefreut. Ich weiß gar nicht, was Nummer zwei gegen ihn hatte.“ Louisa strahlte sie an. „Das ist doch wunderbar, oder? Ich meine, dass du hier bald raus kannst. Ach, wieso kann man uns nicht einfach bleiben lassen, wer wir sind? Ich mag meine Stimmen, wenn ich die Tabletten nehme, dann gehen sie weg, und ich bin einsam. Das will ich nicht, ich komme mit ihnen ganz gut klar und sie tun doch keinem was.“
Jenna verstand, was das Mädchen meinte. Die Menschen, denen sie hier begegnet war, lebten in einer anderen Welt. Einige von ihnen waren darin sehr glücklich, aber viele von ihnen waren nicht in der Lage, ihr Leben innerhalb der Gesellschaft zu bestreiten. Andere, hatten mehrere Selbstmordversuche hinter sich, hatten anderen wehgetan, oder sich selbst in Gefahr gebracht, ohne es wirklich beabsichtigt zu haben oder steuern zu können. Für all diese Leute gab es keinen Platz, also brachte man sie hier her und schloss sie weg. So wie man auch sie weggeschlossen hatte, obwohl Jenna nicht verrückt war.
Wie viele der anderen war es wie ihr ergangen, überlegte Jen. Wie viele hatten vielleicht eine Begegnung mit etwas oder jemanden gehabt, wie sie und waren als verrückt abgestempelt worden? Würde man Elias Geschichte hören, oder die der anderen Arsaten, man würde sie ebenfalls hier einweisen, ganz sicher, obwohl es Tatsachen waren? Oder etwa nicht? Jenna merkte, wie sie an sich zweifelte, ihre Gedanken abschweiften. Hatte sie sich alles vielleicht nur eingebildet, hatte sie vielleicht auch in einer Traumwelt oder eher Albtraumwelt gelebt? Nein! Der Tod von Laura, von Markus, von Lukas, das war Realität, genauso wie Danjal Realität war. ER hatte sie berührt, ER hatte mit ihr gesprochen, IHN hatte sie geliebt, IHN hatte sie getötet.
Das waren diese verdammten Medikamente! Die brachten sie dazu zu zweifeln, an sich zu zweifeln.
Louisa starrte sie mit offenem Mund an, und Jen realisierte, dass die junge Frau mit ihr gesprochen hatte und auf eine Antwort wartete. Jenna schüttelte sich kurz und sagte: „Entschuldige, was hast du gesagt?“ „Ich wollte wissen, warum du dich so für den Mann interessierst, kennst du ihn?“ Sonderbare Frage, warum hatte sie nicht gefragt, weshalb sie noch gar nicht wusste, dass sie aus der Klinik entlassen werden würde. Aber so dachte Louisa nicht, das schien ihr nicht wichtig, der Mann war ihr wichtiger. „Ich dachte ich würde ihn kennen“, antwortete Jen.
Als Jen am Abend auf ihrem Bett lag und an die Decke starrte, huschten die Schatten ihrer Vergangenheit nur vorüber. Die Medikament wirkten, und ließen nicht zu, dass die Erinnerungen an ihre Schwester an die Oberfläche ihres Bewusstseins drangen. Aber ein Gedanke schaffte es aus dem Nebel auszubrechen. Danjal war hier gewesen, Louisa hatte ihn auch gesehen. Dann schlief Jen ein.
Jeder Tag war dem Vorangegangenen irgendwie gleich: 7:00 Uhr Frühstück, 8:30 Medikamentenausgabe, 9:00 Uhr Gruppentherapie, 10:00 – 11:00 Uhr Freizeit, zum Erholen, eine Stunde stumpfsinniges Basteln, Malen oder rhythmisch im Takt der Musiktherapie klatschen, 12:00 Uhr Mittagessen, Mittagsruhe bis 15:00 Uhr. Danach dreimal die Woche Einzeltherapie bei einem Psychiater oder Freizeitgestaltung, entweder unter Inanspruchnahme des Angebotes der Klinik, Yoga oder Stricken oder noch einmal Malen oder sonst was oder sich selbst beschäftigen. Fernsehen, Lesen, Spazierengehen, Unterhalten oder vor sich Hinstarren.
Jenna entschied sich meistens fürs Lesen. Ihre Eltern und ein paar Freunde, die sich getraut hatten sie zu besuchen, hatten ihr eine beträchtliche Anzahl an Büchern, darunter auch Fachliteratur, mitgebracht. Heute jedoch saß sie da und starrte auf die Sätze, Wörter, Buchstaben, die vor ihren Augen hin und her tanzten. Louisa hatte ihn auch gesehen, spukte es in ihrem Kopf herum, Louisa hatte ihn auch gesehen. Aber Louisa war verrückt, so wie sie. Diese verdammten Tabletten! Jen schmiss das Buch in die Ecke. „Der Klinikleiter möchte sie gerne sprechen“, vernahm sie die Stimme einer Krankenschwester, die das Buch aufhob, und vor ihr auf den Tisch legte. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie und schaute Jenna besorgt an. „Ja, ja es ist alles O.K. Entschuldigung, ich habe mich nur über eine Stelle im Text geärgert“, sagte sie und folgte der Frau zu Dr. Prof. Prof. med. Richter, dem Klinikleiter.
Vor dessen Büro angekommen, klopfte die Krankenschwester an und sie warteten. Jenna starrte auf das Namensschild und stellte schmunzelnd fest, dass der Doktor wohl ein zweites Schild anbringen müsse, wenn er noch einen Doktor oder Professor machen würde. Dann hörte sie die Stimme von innen, die hereinbat. Jenna betrat alleine das Zimmer und zu ihrer großen Freude war dort noch jemand, der auf sie wartete. Elias drehte sich zu ihr um, als sie den Raum betrat und lächelte.
„Lass uns bloß schnell hier weg, bevor sie es sich noch anders überlegen“, sagte sie zu Elias, als sie mit ihm die Straße hinunter, zu seinem Wagen eilte. Keine zehn Minuten waren vergangen, von dem Moment, indem ihr Prof. Prof. Prof. 'ich lasse mir die Zähne bleichen' Richter gesagt hatte, dass sie gehen könne, bis zu diesem Augenblick. Ihre Sachen hatte sie in eine Reisetasche gestopft, das, was nicht mehr reingepasst hatte, hatte sie zurückgelassen. Elias humpelte hinter ihr her, und bevor er den Wagen aufschloss, schmiss Jen noch die Medikamente, die sie von der Klinik erhalten hatte, in den Mülleimer an der Laterne. Dann stellte sie ihre Tasche auf den Rücksitz und stieg zu ihm in den Wagen, nicht ohne noch einen kurzen Blick zurück zur Klinik zu werfen. Sie sah den Mann, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand und sie beobachtete. Und sie sah auch SEIN Grinsen.
Elias fuhr mit Jenna an seiner Seite in den Berliner Bezirk Mitte, ins Nikolaiviertel. Hier, unter dem Deckmantel eines Museums, befand sich der Aufenthaltsort der 'Bruderschaft der Arsaten', der auch er angehörte, wieder angehörte. Nach einem heftigen Zusammenstoß mit IHM, und einem emotionalen Zusammenbruch, war Elias aus der Bruderschaft ausgeschlossen worden. Nun war er wieder einer von ihnen, sie konnten nicht auf ihn verzichten, das hatten sie eingesehen und er war auch bereit erneut einer von ihnen zu sein.
Jenna war verstörend ruhig. Hatte sie eben in der Klinik noch ununterbrochen geredet und geschimpft, saß sie nun schweigend neben ihm und starrte zum Seitenfenster hinaus. Kurz wendete er seinen Blick von der Straße ab und schaute zu ihr herüber. „Alles gut bei dir?“ Sie nickte. „Was ist los?“ „Nichts!“, antwortete sie. „Ich weiß es war schwer für dich, all die Dinge, die geschehen sind, aber-“ „Das ist es nicht“, unterbrach sie ihn. „Ich weiß, du musst glauben ich hätte dich im Stich gelassen. Wir haben wirklich alles versucht, dich da rauszuholen.“ „Das ist mir bewusst und ich bin dir und euch dankbar dafür.“ Elias parkte den Wagen und kam zur Beifahrerseite herum, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Dann nahm er Jennas Tasche und gemeinsam gingen sie in das Palais, um dort die anderen Arsaten zu treffen.
Jenna und Elias wurden von dem Ältesten empfangen. Er führte sie in sein geräumiges Arbeitszimmer, bot ihnen einen Platz und etwas zu trinken an. Als er sich ebenfalls setzte, bemerkte Jen Sorgenfalten, die sich auf seiner Stirn abzeichneten.
„Fräulein Drescher, ich bin froh Sie wieder bei uns zu wissen. Wir hoffen, dass Sie uns nach wie vor als Auserwählte, im Kampf gegen das Böse, zur Verfügung stehen.“ Er lächelte unsicher. „An meiner Entscheidung hat sich nichts geändert, es ist mein Wunsch Sie zu unterstützen.“ Die Sorgenfalten verschwanden und aus dem unsicheren Lächeln, wurde ein freundliches. „Das ist gut, das beruhigt mich. Sie sind eine wichtige Waffe in unserem Kampf, vielleicht die Wichtigste. Doch bevor wir beginnen, denke ich, sollte Ihnen ein wenig Ruhe gegönnt werden. Wir halten es für besser, Sie hier in Berlin zu behalten und nicht nach Rom gehen zu lassen. Wir haben Ihnen ein Zimmer fertiggemacht, ich hoffe das ist Ihnen genehm.“
Читать дальше