Als Ende April 1945 der Krieg aus war und die russischen Soldaten in das Dorf einfielen, spielten sich schreckliche Szenen ab.
Durch die Nazipropaganda verschreckt und verstört, nahmen sich viele der jungen Mädchen und Frauen im Dorf mit ihren Kindern das Leben aus Angst vor Vergewaltigungen. Man fand ganze Familien erhängt im Wald. Vor ihnen lagen die Kinder, die man mit Schaftabletten beruhigt und dann im Dorfteich ertränkt hatte. Zwei Schwestern aus dem Nachbarhaus erhängten sich am Fensterkreuz in ihrem Zimmer. Es waren junge, hübsche Mädchen in ihrem Alter und Cordula weinte fassungslos, hatte sie doch noch am Tag zuvor mit ihnen gesprochen.
Auch die Bürgermeistersfrau erhängte sich im Kuhstall. Sie war allein. Ihr Mann war von den russischen Soldaten abgeholt worden. Sie hatte wohl schon einige Vergewaltigungen über sich ergehen lassen müssen und nun keine Kraft mehr auszuharren und unter dieser Angst auf die ungewisse Rückkehr ihres Mannes zu warten.
Einmal, es war noch Winter, wurde eine lange Kolonne jüdischer Frauen durch das Dorf getrieben. Die Frauen waren nur unzureichend bekleidet und viele von ihnen sogar barfuß. Die Bauersfrauen versuchten zu helfen und schoben den Gefangenen ihre eigenen Holzpantinen und Schuhe hin. Das musste vorsichtig geschehen, denn die Wachmannschaft hielt das Gewehr im Anschlag. Man trieb die weinenden Frauen in eine Scheune. Dort bekamen sie Viehfutter als Verpflegung. Die ganze Nacht hörte man ihr verzweifeltes Weinen und Klagen durch das Dorf und viele Frauen im Dorf weinten insgeheim mit ihnen.
Cordula hatte alles mit angesehen, als sie mit dem Kind auf dem Arm auf der Straße stand und sollte dieses Erlebnis ihr ganzes Leben nicht vergessen.
Sie saß in ihrer kleinen Wohnung an der Nähmaschine als eine Nachbarin herein gestürzt kam und schrie „ die Russen kommen.“ Was sollte man tun? Viele der Dorfbewohner strebten dem Wald zu, um sich dort zu verstecken. Cordula packte ihr Söhnchen in den Kinderwagen und versuchte dorthin mitzugehen, aber plötzlich löste sich ein Rad vom Wagen und sie stand starr vor Schreck. Was um Gottes willen sollte sie tun? Sie nahm ihr Kind auf den Arm und lief zurück zum Haus.
Als die russischen Soldaten auch in das Bürgermeisterhaus eindrangen, hatte sich Cordula mit ihrem Baby auf dem Heuboden versteckt, immer in der Angst, dass das Kind weinen und sie damit verraten könnte. Dabei wurde sie Zeuge, wie die russischen Soldaten über die Kühe herfielen, um dort ihre angestauten Bedürfnisse zu befriedigen.
Es war eine Zeit voller Angst und Schrecken. Die jungen Frauen und Mädchen verkleideten sich mit Kopftuch und langen Röcken, um dem russischen „Frau komm“ zu entgehen, aber meistens half das gar nichts. Cordula hatte sich ebenso „verkleidet“ und lief mit dem Kind auf dem Arm und einem Kissenbesuch mit Windeln in der anderen Hand durch das Dorf, weil sie nicht wusste, wo sie bleiben sollte, denn in ihrer kleinen Wohnung hatten sich randalierende Soldaten einquartiert.
Später wurden die verbliebenen Einwohner des Dorfes zu Arbeiten gezwungen, die sie ohne warme Kleidung, ohne ausreichende Nahrung, mit bloßen Händen leisten mussten. Es wurden die Kabeln aus dem gefrorenen Boden geholt und auf große Holztrommeln gerollt, die die verängstigten Frauen kaum bewältigen konnten. Aber die russischen Soldaten standen mit schussbereiten Gewehren dabei und nicht selten legten sie diese auf die Frauen an. Cordula war in einem dieser Arbeitstrupps und in großer Unruhe, denn ihr Kind lag zu Haus im Bettchen, es war allein, und niemand konnte sich darum kümmern. Sie versuchte ihren russischen Bewachern zu erklären, dass sie nach Hause müsste zum Kind. Aber man verstand sie nicht und legte das Gewehr auf sie an. Unter großem Geschrei bildeten all die Frauen einen Ring um sie und erzwangen so die Erlaubnis für die junge Mutter zu ihrem Kind zu gehen.
In das Haus des Bürgermeisters in dem Cordula wohnte, zog dann der russische Generalstab ein. Der General hatte auf dem Hof seinen Campingwagen stehen, während die anderen Offiziere sich in dem großen Bauernhaus die Zimmer aussuchten. Es waren gut aussehende Männer, manierlich und ordentlich, auch ein blonder Balte war darunter, wie sie später feststellen konnte.
Da ihr kleiner Sohn noch nicht sprechen konnte, gab sie sich als Französin aus und stand fortan unter dem Schutz eines französisch sprechenden Majors, der sie um die Gefälligkeit gebeten hatte, etwas an seiner Uniform auszubessern. Die russischen Offiziersuniformen hatten halbhohe Stehkragen und scheuerten am Hals. Deswegen wurde da ein weißer Leinenstreifen eingenäht. Als Cordula den Major bat, sein Jackett auszuziehen, damit sie das einnähen konnte, war ihm das sehr peinlich und es dauerte eine Weile, bis er sich dazu entschloss.
Für ihre Näharbeit durfte sie dann an der Mittagstafel der Offiziere teilnehmen, wo sie allerdings den Wodka nicht ablehnen durfte. Denn das nehmen die Russen übel. Man versuchte vergeblich es ihr mit viel Zucker schmackhafter zu machen, doch sie war und blieb gegen jeglichen Alkohol.
Cordula, die im Preußischen Potsdam aufgewachsen war und sogar mit ihren Eltern gegenüber dem Offizierskasino gewohnt hatte, kannte sich aus in dem Umgangston, der dort herrschte. Umso erstaunter war sie, wenn sie hier die lockeren Manieren zwischen den Offizieren beobachtete. Wenn von den Herren der eine oder andere noch nach einer Zigarette oder Zigarre fragte, so zog die Ordonnanz aus der Brusttasche einen etwas zerdrückten Glimmstängel und bot ihn dem Fragenden an.
Cordula war nur zu froh, dass der Professor, der an der Moskauer Universität lehrte wie er ihr sagte, die schützende Hand über sie hielt, so dass sie keine Vergewaltigung zu fürchten brauchte. Es kamen dann oft einige junge Mädchen und Mägde aus dem Dorf in ihre Wohnung zur Übernachtung, in der Hoffnung dort vor den Vergewaltigungen sicher zu sein.
Man hatte Cordula eine Kuh für die Versorgung ihres Babys zugeteilt, aber da sie nicht melken konnte, musste sie sich dafür jemand suchen. Sie fand eine unter den Bauernmädchen, die sich auch um die Beschaffung des Futters kümmerte und später die Kuh behalten konnte.
Die Russen schlachteten eine Menge Vieh ab und warfen die Innereien achtlos auf den Hof. Deutsche Frauen standen in ängstlicher Entfernung m Rande des Hofes und schauten hungrig auf die weggeworfenen kostbaren tierischen Teile. Aber niemand traute sich vor um vielleicht noch etwas zu retten. Da nahm sich Cordula ein Herz und im Bewusstsein unter dem Schutz ihres freundlichen Russen zu stehen, bat sie, die Teile nehmen zu dürfen, was man ihr auch mit „karrascho“ erlaubte. Schnell klaubte sie alles in einen großen Eimer und gab es den erfreuten und kreischenden Frauen.
Cordula war in großer Sorge, denn sie hatte lange nichts von ihrem geliebten Peter gehört. Er war in der letzten Zeit gar nicht mehr so oft über das Wochenende gekommen, und bekam, wie er sagte, weniger Wochenend-Urlaub von seinem Dienst. Cordula glaubte, auch in seinen Umarmungen eine Änderung zu spüren, aber als sie ihn einmal danach fragte, schien er sehr gekränkt über ihren Zweifel. Cordula war zu jung und zu unerfahren und nur zu gerne glaubte sie seinen erneuten Liebesschwüren und zärtlichen Küssen, mit denen er sie zu beruhigen suchte.
Eines Tages stand ihr Schwager Werner, der Mann ihrer ältesten Schwester Agnes mit noch zwei verwundeten Kameraden vor ihrer Tür. Es waren zerlumpte, verhungerte Gestalten, der eine hatte um einen Streifschuss am Kopf einen blutigen und schmutzigen Verband, während der andere den Arm in der Schlinge trug. Sie wankten, vor Hunger, vor Müdigkeit und Schmerzen und Cordula lief schnell und fragte um die Genehmigung die Soldaten bei sich aufnehmen zu dürfen. Dann stellte sie einen großen Topf mit Kartoffeln auf, den die hungrigen Heimkehrer nicht aus den Augen ließen. Die drei Männer blieben für 2 Tage, hatten aber keine Ruhe und wollten versuchen nach Hause zu gelangen. Wie Cordula später erfuhr, wurde ihr Schwager Werner unterwegs von einer russischen Streife aufgegriffen und deportiert. Erst Jahre später kam er heim zu Frau und Kind, aber da war es dann schon zu spät.
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