Mathe war viel zu schnell erledigt.
»Deutsch klappt auch nicht so«, sagte ich, meine Würde vergessend, weil ich wollte, dass er bei mir sitzen blieb.
»Zeig mal«, forderte er mich auf.
Und ich zeigte es ihm.
Plötzlich verstand ich, was es mit der Relativitätstheorie auf sich hatte. Wir waren fast durch, aber es kam mir so vor, als hätte er sich gerade erst neben mich gesetzt.
Verdammt, warum musste er denn auch mein Lehrer sein!
Wobei, wenn ich ehrlich bin, machte dies einen Teil seiner Faszination aus.
Ich wollte schlichtweg meinen Lehrer verführen.
War es nicht seltsam, dass, wäre es anders herum, er sich strafbar machen würde, ich aber einfach so damit durchkam, weil ich der Schüler war. Ich könnte mich nackt in seine Umkleide stellen und auf ihn warten, ihn mit mir dort einsperren, ihn bedrängen, ohne von der Schule zu fliegen. Allerhöchstens würde ich einige ernste Gespräche über mich ergehen lassen müssen, aber ein Rausschmiss wäre erst dann fällig, wenn er sich wegen mir ernsthaft bedroht fühlte. Es brauchte deutlich mehr als einen einzigen Verführungsversuch meiner Seite aus, um eine echte Strafe heraufzubeschwören. Aber würde er es auch nur wagen, jetzt seine Hand ganz unschuldig auf mein Knie zu legen, wäre er der Perverse.
Als mir die Vorstellung kam, starrte ich unwillkürlich hinab auf mein Bein. Es war dem seinem so nahe, nur eine Handbreit Luft stand zwischen uns. Er überprüfte gerade die Personenbeschreibung, bei der er mir geholfen hatte, indem er mir das ein oder andere Wort erklärte, mir neue Wörter beibrachte, die passender klangen und einfacher zu schreiben waren.
Ich stieß ganz beiläufig mit meinem Knie gegen seines, noch bevor ich mich davon abhalten konnte, und beobachtete die Reaktion in seinem Gesicht.
Er zuckte überrascht zusammen und nahm sein Bein fort. »Oh, Entschuldigung.« Er war es, der sich entschuldigte, obwohl ich ihn angestoßen hatte.
Ich ließ mir Zeit, bevor ich erwiderte: »Macht nichts.« Und ich sagte es nicht einfach so daher, wie wenn man es jemanden nachrief, der einem auf der Straße mit der Schulter anrempelte und der sich dann halbernstgemeint entschuldigte, während er bereits weiter ging. Sondern ich sagte »Macht nichts« mit einem Lächeln. Bedeutsam. Es darf ruhig wieder vorkommen.
Er schien die Bedeutung nicht zu bemerken, er las weiter, was wir zusammen zu Papier gebracht hatten, und setzte ein paar Kommas, die ich vergessen hatte.
Ich war enttäuscht und atmete frustriert aus.
Dann spürte ich es.
Sein Knie an meinem. Er stieß es nicht so an wie ich, nicht so kräftig und ungeschickt, er lehnte es gegen meines, als habe er lediglich sein Bein entspannen wollen und dabei haben sich rein durch Zufall unsere Knie berührt.
Ich zuckte nicht zurück. Sein Bein blieb, wo es war.
War das ein Test? Sollte ich nun von ihm abrücken?
Und wenn ich nicht wollte?
War es eine Frage, auf die ich mit einer bestimmten Geste antworten sollte?
Oder bildete ich mir all das nur ein?
Mir schlug das Herz bis zum Hals, und dort, wo wir uns berührten, stand meine Haut in Flammen. Ich wollte meinen Schenkel gegen seinen pressen, ganz fest, und dann darüber reiben. Würde das noch als Versehen durchgehen, als Zufall? Wohl kaum.
Ich blieb wie angewurzelt sitzen, weil ich Angst hatte, den Zauber zu durchbrechen. Und er schien plötzlich äußerst lange zu brauchen, um die Seite zu Ende zu lesen.
Oder bildete ich mir auch das nur ein?
»Gut«, sagte er und stand dann auf.
Ich sah ihn verblüfft an. Das war alles? Mehr gab es nicht zu tun? Ich überlegte fieberhaft, ob ich nicht noch mehr Hausaufgaben hatte, aber leider war das nicht der Fall.
Er lächelte mich gönnerhaft an, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sich etwas Schüchternes auf seine Gesichtszüge geschlichen hatte.
Hat sein Knie doch ganz bewusst an meinem gelegen?
Und wenn ja, was wollte er mir damit signalisieren?
Es war herrlich spannend, mir diese Fragen zu stellen, dass mir die Pumpe krampfte.
»Dann los, ab in die Halle mit dir«, er winkte mich nach draußen, als wollte er mich plötzlich sehr schnell loswerden.
Dabei wollte ich lieber weiter mit ihm lernen.
Er beobachtete mich. Ich konnte es spüren, während ich dem Ball nachjagte, wie der Fuchs dem Kaninchen. Oder wie ein verblödeter Köter dem Spielzeug. Seine Blicke brannten, als würden Feuerpeitschen aus ihnen züngeln und mich schlagen. Hinterkopf, Nacken, Rücken, Brust waren davon betroffen, aber überwiegend konnte ich es auf meinem verschwitzten Profil spüren.
Oder war auch dieser Eindruck wieder nur reines Wunschdenken? Vielleicht sah er gar nicht so oft zu mir rüber, wie ich es gerne hätte, möglicherweise spielte mir meine Fantasie Streiche.
Aber immer wieder, wenn ich zu ihm blickte, begegneten uns unsere Augen. Er wich meinen aus, tat so, als hätte er nur zufällig gerade in meine Richtung gesehen, als ich mich ihm zuwandte.
Ich stolperte über meine eigenen Füße, immer wieder, weil ich mich mehr nach ihm umsah, als nach dem Ball.
Miss Martin gesellte sich wieder zu ihm, aber obwohl er lächelte, hatte ich den Eindruck, dass er ihrem Geplauder nur noch mit kühler Höflichkeit folgte. Wie jemand, der gerade den Kopf voller anderer Dinge hatte, es aber nicht zugeben wollte.
Möglicherweise bedeuteten seine Blicke aber auch lediglich Mitleid, denn ich hatte ja gerade bewiesen, dass ich ohne Hilfe nicht einmal die einfachsten Dinge erledigen konnte.
Sah er nun meinen Körper an, fand er Gefallen an mir, oder überlegte er, ob es für mich nicht besser wäre, auf eine Sonderschule zu wechseln, für besonders langsame Kinder? Und grübelte er bereits, wie er das möglichst höfflich und sachlich meinen Eltern vorschlagen konnte, ohne sie oder mich zu kränken?
War er deshalb so nett gewesen, als er sich zu mir setzte? Hat er sich möglicherweise nur ein Bild von der Schwere meiner Lahmheit gemacht?
Der Gedanke gefiel mir überhaupt nicht, ganz und gar nicht. Und nicht nur deshalb, weil ich von der Schule genommen und von meinen Freunden getrennt werden konnte. Nicht einmal, weil ich dann ganz offiziell sonderbar und langsam in den Augen der Gesellschaft wäre. Sondern, weil ich von ihm nicht so gesehen werden wollte. Er sollte mich nicht für dumm halten, nicht einmal für lernbehindert, oder wie auch immer man es freundlich ausdrücken mochte.
Ich wollte ja, dass er etwas Besonderes in mir sah, aber gewiss nicht, weil er mich für besonders beschränkt hielt.
Und ich wollte ihm beweisen, dass ich nicht langsam war, wollte ihn um jeden Preis davon überzeugen, dass ich nicht bemitleidenswert war.
Obwohl ich auch sein Mitleid genommen hätte, wäre das alles, was er mir gegenüber an Gefühlen hätte aufbringen können.
Ich könnte ihn erpressen. Emotional erpressen. Ein bisschen auf »armer, dummer Junge« machen. Und so wie ich mich kannte, wäre ich mir dafür auch gewiss nicht zu schade. Also behielt ich diesen Gedanken als Plan B im Hinterkopf. Allerdings blieb Plan A, ihn zu überzeugen, dass ich auch so gescheit sein konnte, wie er es war.
Ich hatte mein Handy vergessen. Es war nicht das erste Mal, dass ich es in der Umkleide nach dem Sport liegen ließ, also ging ich davon aus, dass es nicht für immer verloren blieb. Am Montagmorgen würde ich es wieder abholen können, denn leider fiel es mir erst auf, als ich bereits in meinem Zimmer den Rucksack in eine Ecke schmiss.
Weshalb ich mich schleunigst an meinen Computer setzte und einen Chat mit Timo begann. Jedoch nur kurz, denn dann entschlossen wir uns, eine gepflegte Runde via Headset zu plaudern und dabei einen Shooter zu spielen.
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