Lustlos schaute ich aus dem Autofenster und ließ den Blick über eine endlose Wüste aus zurechtgezimmerten und ästhetisch vereinfachten Wohnriegeln schweifen. Komische Häuser, dachte ich. So unpersönlich, so lieblos in den Boden gestampft, gänzlich ohne erkennbare Infrastruktur schmiegten sich die riesigen Betonskelette dicht aneinander als wollten sie sich umarmen. Wenigstens das war ihnen geblieben, dachte ich. Schon aus dem Autofenster sah diese Vororteinöde schlimm aus, doch wie muss sich wohl das Leben der Leute anfühlen, die hinter diesen kleinen Fenstern leben? Ich war mir wirklich sicher, dass die Bruthöhle von SARS ungefähr so aussehen musste.
Als wir im Hotel ankamen, wurden wir schon erwartet. Lan Li, eine jugendlich gebliebene Mitvierzigern mit rötlich leuchtendem Pagenkopf und einem hübschen verschmitztem Lächeln, stellte unser Empfangskomitee dar. Ich war nun doch ein bisschen überwältigt. Wir checkten in ein riesiges Hotel in der Nähe der Chongqing University im College of Fine Art ein. Meine Güte, dieser Luxus! Was hier wohl ein einfacher Kaffee kostet?
Im historisch aussehenden Foyer unserer Luxusherberge erwarteten uns, irgendwie sehr süß und irgendwie auch sehr aufgeregt, verlegen kichernde Designstudenten. Sie überreichten uns kleine Tüten mit Gast-Geschenken. Ja, und natürlich erwarteten sie nicht uns, sondern vielmehr Finn. Er bedankte sich mehrmals, so entzückt war er. Dann drückte er mir geistesgegenwärtig die Zimmerkarte in die Hand und verschwand, ohne Kuss, mit dem Empfangskomitee in der Lobby. Wieder einmal war ich also allein. Mir war schon klar, dass sich das den gesamten Abend über nicht ändern würde.
Auf dem Weg zum Fahrstuhl musterte ich frech die Hotelmitarbeiter: den Mann hinter der Rezeption, zwei lässig aussehende Herren vom Housekeeping in nachtfarbenen Zweireihern, und einen Pagen. Jeder von ihnen schien mir für die kommenden, einsamen Stunden als potentieller Tröster infrage zu kommen. Vielleicht, so dachte ich, könnte ich mich in einen der Hotelmitarbeiter sogar sparsam verlieben. Rein prophylaktisch, wirklich nur für den Fall der Fälle, ließ ich mir schon mal die Durchwahl zur Rezeption geben.
Unsere Suite befand sich im 18. Stock. Es dauerte ewig bis ich oben ankam, sowieso sollte der Fahrstuhl in den folgenden zwei Tagen einen Großteil meiner Zeit in Anspruch nehmen. Und mich zusätzlich auch noch mit irritierenden Angaben über westliche Edelmarken versorgen. Hach, ich war schon wieder gehässig! Denn leider hörte diese Versorgung bei der Unterhaltungselektronik abrupt auf, wie ich gleich feststellen sollte. Unsere Suite war sehr hell und riesengroß. Ich schnappte mir sofort die Fernbedienung und schaltete mich durch die Programme. Es gab fast fünfzig Kanäle, auf den meisten liefen asiatische Casting-Veranstaltungen, Comedy-Sendungen und Telenovelas. Im einzigen englischsprachigen Kanal gab es aber eine Show, deren Kulisse wie eine Kopie des Studios von Larry King aussah. Okay, englisch, dachte ich, wenigstens etwas! Da bist du zwar auch keine Leuchte drin, aber du verstehst es immerhin besser als chinesisch. Ich setzte mich aufs Bett, testete die Matratze und starrte auf den Bildschirm. Der Daily-Show-Moderator der Sendung kam zwar ohne Hosenträger auf die Bühne, punktete beim Publikum aber mit der Berichterstattung über den Tiefflug der weltweiten Börsen. Oh Mann, Börsen-News, ich war schwer begeistert. Perfekt frisierte Gäste spekulierten in feinem BBC-Englisch darüber, wann die Zeit endlich reif sei, um dem Dollar den Gnadenstoß zu erteilen. So habe ich es jedenfalls verstanden. Ich kann mich auch geirrt haben, ich wusste nicht, was Gnadenstoß auf Englisch heißt. Hach, dass ich die Sprache aber nicht besser beherrschte! Echt schändlich.
Ich seufzte in ein kupferfarbenes Zierkissen mit Gold verzierter Schrift, zippte die Nummern der Fernbedienung ein letztes Mal nach dem Pay-TV-Kanal durch und machte mich, nachdem ich ihn dann doch gefunden hatte, auf die Suche nach einem guten und verlässlichen Freund in der Fremde: der Minibar. Fix nahm ich mir einen schlecht gekühlten Weißwein heraus, goss die halbe Flasche in eines der Longdrink-Gläser, die auf dem Beistelltisch standen und setzte mich wieder vor die Glotze, wo gerade ein Achtzigerjahre Softporno begann. Konnte das wahr sein? Saß ich just in diesem Moment in einem chinesischen Luxushotel, glotzte Pornos und leerte die Minibar? Naja, warum auch nicht? Ständig Kulturprogramm geht einem ja auf Dauer auch auf den Keks! Jetzt erst einmal ein unanständiges Filmchen. Voilà! Es beginnt die erste Szene: Ein Typ, der aussieht wie der Sänger von Duran Duran, Simon le Bon, ist Gast auf einer Vernissage. Er schaut sich die überdimensional großen Aktbilder an, die an den Wänden hängen. Während er sich langsam den Weg durch die Menge bahnt, öffnet er seine Gürtelschnalle. Er schnappt sich eine Flasche Champagner, die links und rechts von ihm in großen Eiskühlern stehen, geht auf die Tür am Ende des Ganges zu und verschwindet dahinter. Schnitt.
Zweite Szene: Im Zimmer brennt in einer Ecke ein schwach gedimmtes Licht, eine platinblonde Frau räkelt sich auf einer breiten rostroten Chaiselongue, die vor einem Spiegel steht, und beobachtet den Mann wie er auf sie zukommt. Sie ist nackt. Der Kerl zieht sich nun mit einer erstaunlichen Gelassenheit vor ihr aus, sie streckt ihm die Hand entgegen und er legt sich zu ihr. Neugierig beginnen sie, jeden Zentimeter ihrer Körper zu erforschen, mit Händen und Mündern. Ab und zu gönnen sie sich eine kleine Pause und nehmen einen Schluck aus der Champagnerflasche. Manchmal lacht sie gespielt verlegen und zögert, weil er zu neugierig ist und mit seiner Zunge überall gleichzeitig sein möchte, dann aber überkommt sie die pure Wollust: „Fuck me“, sagt sie und zieht ihn auf sich und in sich hinein. Das Spiel verselbständigt sich. Dass sie ihm mit ihren Fingern den Weg zeigt, ist nicht nötig, denn er kennt sich aus. Und nun beginnt es richtig, sie werden in gewisser Weise immer berechnender, dosieren aber ihre Lust mit Kalkül, um das Spiel hinauszuzögern. Und dann geschah Folgendes: Ich schnappte mir eine zweite Flasche Wein aus der Minibar, und gluck, gluck, gluck – hatte auch ich mein persönlichen Höhepunkt an diesem Abend. Seltsam stillgelegt schlief ich, nachdem ich die Weinpulle bis auf das letzte Tröpfchen komplett geleert hatte, ein. Das letzte Glas muss mir wohl den Rest gegeben haben.
Ziemlich matt erwachte ich irgendwann. Keine Ahnung, wie lange ich weggedöst war. Ich starrte an die Decke. Huch, habe ich da gerade meine Hand in meinem Slip? Ich bin doch noch vollkommen knülle! Na und? Warum auch nicht? Man wird sich ja wohl noch streicheln dürfen! Ich fuhr immer wieder an denselben Stellen entlang, erst gefühlvoll und langsam, dann energischer und mit festem Druck. Aber nichts geschah. Nichts. Trockenheit. Als würde ich in einem Neoprenanzug stecken! Mit mir stimmt doch was nicht! Also wirklich. Bin ich krank? Enttäuscht brach ich mitten in der Bewegung ab. Ich muss hier raus, dachte ich. Ich will Sex! Sofort Sex. Sex mit Finn, Sex mit dem Hotelpersonal, Sex mit meinen imaginären Bettpartnern, Sex mit Simon le Bon, Sex mit Ole, von mir aus Sex mit einem Betonskelett. Ich muss nicht geliebt, nur befriedigt werden. Los jetzt! Unternimm etwas! Raff dich auf. Tu was! Tu was! Lass dich nicht so gehen! Lethargisch schleppte ich mich ins Bad, schüttete mir kaltes Wasser ins fahle Gesicht und machte mich, soweit es ging, ein wenig hübsch. Die Betonung liegt auf: soweit es ging , denn mein Anblick stimmte mich revolutionär. Ich war verdammt wütend, ich hatte das Gefühl, mich selbst verraten zu haben. Ich hätte am liebsten das Mobiliar zerschlagen. Eine ungeahnte Wut überkam mich. Ich wusste gar nicht, dass ich überhaupt zu so viel Wut fähig war! Oh Gott, vielleicht war der Wein ja vergiftet! Oder mit dem Wut-Virus gepanscht! Vielleicht hat mir jemand das Wut-Virus aber auch intravenös verabreicht, während ich schlief und von Simon le Bon träumte? Ich war ganz sicher infiziert! Denn ich war so unsagbar, so unvorstellbar wütend! Auf Finn. Auf mich. Und wieder auf Finn. Rasend vor Entrüstung begann ich, laut Selbstgespräche zu führen!
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