Meine liebe Sophie,
in der vergangenen Woche regnete es jeden Tag in Strömen und die Wolken hingen so tief, dass man kaum das Meer sehen konnte. Dafür ist der Garten jetzt so grün, dass du eine neue Farbe dafür erfinden würdest. Ich war heute übrigens wieder surfen. Als ich in Pakiri ankam, brach der Himmel auf. Im Flur hängt dein Shorty, ich habe mich geweigert, ihn im Schrank zu verstauen.
Überall vorm Haus linsen die Gänseblümchen aus der Wiese und die Spatzen machen morgens einen Höllen-Rabatz. Ich habe, mitten in der Wildnis, eine neue Bar entdeckt. Es sieht dort aus wie bei den Dukes of Hazzard. Alles ist für dich vorbereitet!
Liebend küsst dich, Finn
Seit ich mit Finn zusammen war, flogen wir für seine Jobs um die Welt, heute hier, morgen dort, ich verlor irgendwann den Überblick, denn es wurde zur Normalität in einem anderen Land, in einem anderen Hotelbett oder in einem anderen Leben aufzuwachen. Genauso wie es für Finn als gefragten Industriedesigner normal war, wenn ihn irgendwelche Firmen-Bosse für Vorträge kurzfristig von einem Ende der Welt ans andere einfliegen ließen, nur um das "International" im Titel ihrer Veranstaltung zu rechtfertigen. Wir reisten nie mit viel Gepäck, die Reden, die er über nachhaltiges Design hielt, kannte er auswendig. Manchmal bezeichnete ich mich als sein Handgepäck. Finn konnte, im Gegensatz zu mir, nie darüber lachen. Mit jedem Flug fiel es mir schwerer, die Länder, Städte und Hotels, die wir bereisten, voneinander zu unterscheiden. Ich war müde, furchtbar müde. Mein Leben fühlte sich wie ein nicht enden wollender Jetlag an. Am Anfang ist ja immer alles so neu und furchtbar aufregend und ich weiß noch, wie ich es zu Beginn dieser Reisen kaum erwarten konnte, dass der Flieger landete. Aber irgendwann, nach endlosen Flug-Meilen, tauschte ich meine Neugier an der Passkontrolle einfach gegen einen neuen Stempel ein.
Wie bereits schon oft zuvor, sollte Finn ein weiteres Mal über Design und Nachhaltigkeit referieren. Dieses Mal sollte es nach China gehen, Heidewitzka, ich in China! Früher hätte ich das bestimmt unheimlich aufregend gefunden. Ist es nicht wunderbar, wenn man seinen Freund überall hin begleiten kann? Und natürlich begleitete ich ihn auch dieses Mal, obwohl mich seine Vorträge und diese ganze Fachsprachen-Poetik nur wenig interessierten. Wir verbrachten auf dem Weg nach China zweieinhalb Tage im Flugzeug, um wiederum ebenfalls zweieinhalb Tage vor Ort zu sein - das ergab schon einen beachtlichen Karbon-Fußabdruck, fand ich, der ganz gewiss zu den Top-Schweinereien meiner persönlichen Öko-Bilanz zählt. Übernächtigt und wie ferngesteuert landeten wir nach einer gefühlten Endlos-Odyssee in einer schönen, smogreichen Millionenstadt in den Bergen Südwestchinas, einer Stadt, die in der Liga der Klimakiller garantiert ganz oben spielt: Chongqing - die am schnellsten wachsende Metropole der Welt, geteilt vom Jangtse, gebaut aus genügend Beton um Finns neue Heimat Neuseeland in einen meterdicken Sarkophag zu hüllen, ein grauer Superlativ der Plattenbauten von Berlin-Hellersdorf. Ich konnte es noch immer nicht glauben. Ich war tatsächlich schon wieder mitgeflogen. Ich in China, was sollte ich hier überhaupt?
In der Flughafenhalle erwartete uns unser persönlicher Fahrer, ein kleiner, etwas älterer Mann mit gutmütigen Augen, Schiebermütze und Pappschild in der Hand. Freundlich distanziert begrüßte er uns und ließ sich nicht davon abbringen, unser Gepäck zu tragen. Wir bestiegen einen jungfräulichen chinesischen Luxusschlitten und hupten auf dem Weg ins Hotel alles vom Autobahn-Asphalt, was nicht schnell genug zur Seite kam: BMWs, Limousinen, unzählige amerikanische Modelle, überladene Mopeds, russische 40-Tonner, Spaziergänger. Sechs Spuren Wahnsinn und Raserei. Wohin ich auch schaute, überall wurde gebaut. Es erinnerte mich fast ein bisschen an Berlin-Mitte! Baustellen, Baustellen, Baustellen. Ach, ich wollte am liebsten sofort wieder nachhause. Finn würde sowieso keine Zeit für mich haben, da war ich mir sicher. Irgendwie musste ich an Ole denken, als ich sehnsüchtig einem der vielen Rikscha-Fahrern hinterherschaute. Ich stellte mir vor, hinten bei ihm einzusteigen und er würde mich dann nicht nur ins Hotel fahren, sondern auch aufs Zimmer begleiten. Und dort würde dieser fremde, chinesische Rikscha-Fahrer mein pseudo-vernunftbasiertes Dasein, das inzwischen gewiss lächerlich anmutete, zusammen mit meinem Kleid abstreifen wie die Last einer provisorisch zusammengeflickten Liebe. Dass ich aber auch schon wieder so gefühlsduselig sein musste! Ich konnte es einfach nicht lassen, ich konnte es aber auch nicht lassen, über unsere Beziehung nachzudenken und darüber zu grübeln.
Längst glich sie inzwischen einer dieser vorhersehbaren Serien im RTL-Vorabendprogramm, deren Dialoge wie ein Springbrunnen an Belanglosigkeiten emotionslos vor sich hinplätschern. Im normalen Leben schaltet man dann einfach um oder den Fernseher gleich ganz ab, ein Klick und er ist aus, ein Klick und Ruhe im Karton. Aber leider fand ich in dieser Beziehung den Schalter dafür nicht. Es gab für mich kein An oder Aus, es gab für mich nur weiter, weiter, immer weiter. Dabei hätte es doch so einfach sein müssen, diese Liebe nach all ihren nicht genutzten Chancen endlich aufzugeben, erst recht, weil wir beide, Finn und ich, schon ewig nicht mehr miteinander geschlafen hatten. Ja, so war das. Tatsächlich ist es so gewesen. Nichts hielt mich fest, ich war es selbst, die sich anleinte und dass, obwohl Finn keine meiner elementarsten Bedürfnisse, nicht einmal die kleinsten und augenscheinlichsten befriedigte. Und ich war mir auch sicher, dass ich ihn nicht glücklich machte, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte. Also warum, um Himmels Willen, nicht ein für alle Male die Reißleine ziehen? Ich litt doch inzwischen sowieso schon unter dem permanenten Gefühl in einem Hochdruckkessel eingesperrt zu sein, der jeden Moment zu explodieren droht.
Meine Güte, mein Liebeshunger war unerträglich, ich fühlte mich wirklich vollkommen lächerlich, ich bin doch eine Frau, die Männer begehrt, die begehrt werden möchte, ich bin doch keine Puppe, die man in einen Koffer packt und dann im Hotelzimmer zurücklässt. Es war schrecklich und es fühlte sich auch nicht richtig an, aber imaginär schlief ich jetzt schon im Minutentakt mit Phantommenschen, sie mussten kein Gesicht haben, namenlos, willenlos, nur Körper sein, jeden Tag wurden es mehr.
Ich fragte mich, ob ich Finn mit dem falschen Geständnis schocken könnte, ihn mit dutzenden Männern zu betrügen. Mein Körper war für ihn doch sowieso nichts weiter als ein Gegenstand geworden, den er weder brauchte, noch benutzte, eine Hülle, die - wäre sie nicht in Spitze gehüllt - eigentlich ausgelagert werden könnte. Ja, tatsächlich! Nun gut, vielleicht übertrieb ich auch. Vielleicht ging ich damit wirklich einen Schritt zu weit, aber
für mich fühlte sich das Ganze an, als hätte irgendein kaputter, liebessatter Freak, um nicht zu sagen Finns alter ego , den Wunsch nach Sex von seiner Festplatte gelöscht. Sex war für Finn, so glaubte ich, bestimmt so eine Art Virus, den man sich gelegentlich einfängt, aber mit der richtigen Schadstoff-Software erfolgreich bekämpft.
Die Fahrt von unserem Flughafen in die chinesische Riesenmetropole dauerte ganze siebenundvierzig Minuten. Im Auto stand die Luft. Ich schaute steile Flusstäler hinab und riesige Hochhäuser hinauf, blickte auf Mauerreste, Seilbahnen und Fachwerk-Konstruktionen, die mich an Raumschiffe erinnerten, und gelegentlich staunte ich ein bisschen über ein paar goldene Tempel und rubinrote Pagoden, vergessene Rudimente des alten Chinas, wie Finn, dessen Hand die gesamte Fahrzeit über auf meinem Knie lag, mir fachmännisch erklärte. Er redete und redete und sprach von China, als ob es sein zweites Zuhause war, mich interessierte das alles herzlich wenig, ich hasste mich schon wieder ein bisschen dafür, dass ich überhaupt mitgeflogen war. Dieser Stress – das war es einfach nicht wert.
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