„Aha. Findest du nicht, dass die Beschäftigung mit einem Puppenhaus bei einer über vierzigjährigen Frau etwas von Regression an sich hat?“
„Nein, finde ich nicht. Ich finde es im Gegenteil kreativ, entspannend und anspruchsvoll. Deutlich anspruchvoller, als in jeder freien Minute am Computer zu kleben.“
„Sehr schön. Und, wann können wir umziehen?“
„Noch lange nicht. Es sei denn, wir schlafen in der Küche.“ Der Regen hatte mittlerweile die Richtung geändert und belagerte die Panoramascheiben der Terrassenverglasung mit aufdringlichem Trommeln, als wolle er bei ihrer Unterhaltung dabei sein. Schwere Tropfen zerplatzten an den Scheiben, rannen hinunter und zogen schmale nasse Spuren hinter sich her, in denen die Gewitterfliegen ertranken. „Manchmal glaube ich, ich kriege diesen Artikel nie hin, obwohl ich genau weiß, was ich sagen will. Es ist wie verhext. Als hätte ich noch nie ein Wort geschrieben.“ Gregor schnickte mit dem Mittelfinger gegen sein Glas und hielt es dann an sein Ohr, als dürfte er sich keine Sekunde des Klangs entgehen lassen.
„Vielleicht ist das ja ein Zeichen dafür, dass der Artikel gar nicht wirklich geschrieben werden will . Soweit ich verstanden habe, besteht die Quintessenz doch mehr oder weniger in der Behauptung, pflanzliches Grün tue den Patienten gut, was ja wohl kein vernünftiger Mensch bestreiten würde, und deine Aufgabe ist es jetzt, die Schlichtheit dieser Botschaft mit Ausdrücken wie Neurogenese, präfrontaler Cortex, limbisches System, Stresstoleranz und Stimulation aufzuhübschen, oder?“
„Ich glaube, du verstehst nicht, wie wichtig mir das ist“, antwortete Iris gekränkt. Vermutlich war Gregor zufrieden damit, was für eine griffige Formulierung er für seine superklugen Erkenntnisse gefunden hatte. Klar, von der unermesslichen Höhe seiner neurologischen Fachkenntnis aus betrachtet mussten ihre Bemühungen sich trivial und stümperhaft darstellen, all ihre Bemühungen vermutlich. „Du nimmst mich überhaupt nicht ernst! Ich – “
„Iris, Liebes! Ich nehme dich ernst, vollkommen ernst! Und du kannst mir glauben, dass ich mich freuen würde, wirklich freuen, wenn du Erfolg hättest und ein bisschen Geld zusätzlich hereinkäme.“ Er streckte den Arm aus, so dass er mit seinen Fingerspitzen gerade über ihre Wange streichen konnte. Sein Lächeln sollte bestimmt ermutigend wirken, zumindest tröstlich, tat es aber nicht. „Als Ehemann einer attraktiven, gut verdienenden Starkolumnistin bräuchte ich mich jedenfalls nur noch um den Garten zu kümmern und müsste mir keine Gedanken mehr um die Finanzen machen.“ Er nahm ihre Hand und hielt sie fest.
„Ich habe Mutter versprochen, dass wir zu ihrem Geburtstag am Sonntag zum Essen kommen.“ Iris zog die Hand zurück, als hätte sie auf eine heiße Herdplatte gefasst.
„Gregor, verdammt noch mal! Es ist unser erstes freies Wochenende seit Monaten! Du hättest mich wenigstens vorher fragen können!“
„ … Winfried und Thea kommen auch.“
„Meinst du etwa, dadurch wird es besser?!“ Am liebsten hätte sie den Cognacschwenker genommen und mit voller Kraft gegen die Fensterscheibe geworfen. „Meinst du etwa, ich hätte Lust, den Nachmittag mit Thea zu verbringen und mir ihr Gefasel über Lichtwesen und kosmische Energien anzuhören?“ Zu spät erkannte Iris, dass sie sich auf einen Nebenkriegsschauplatz hatte locken lassen. Gregor lächelte verständnisvoll.
„Ich weiß, Thea ist eine furchtbare Kuh … aber du kannst dich ja auch mit Mutter unterhalten. Sie freut sich immer, wenn sie jemanden hat, mit dem sie über den Garten sprechen kann. Und vielleicht kommt Frank ja auch.“
„Toll, wirklich. Das hast du toll hingebogen! Weißt du eigentlich, dass wir am Sonntag zur Ausstellungseröffnung bei Christiane Siebert eingeladen sind? In Frankfurt? Ich dachte – “
„Aber du kannst ihre komischen Splitterbilder doch sowieso nicht leiden, hast du mir immer erzählt! Woher soll ich wissen, dass du plötzlich unbedingt da hin willst?“ Gregor hatte mittlerweile so etwas wie ehrliche Empörung in seinen Gesichtsausdruck gelegt. „Wirklich, Iris, woher hätte ich das wissen sollen?“ Gereizt griff Iris nach der Blumenvase auf dem Tisch und fing an, verwelkte Blätter von den Blüten darin abzuzupfen. Das Wasser hatte schon einen leicht fauligen Geruch; sie hätte es längst wechseln sollen.
„Indem du mal zur Abwechslung darüber nachdenkst, was ich gerne möchte, zum Beispiel? Die Ausstellung ist mir scheißegal, aber ich würde gern mal wieder allein mit dir ausgehen, an irgendeinen Ort, wo ich nicht ständig auf Mediziner treffe und über Hirntumore und Hämorrhoiden reden muss! Einfach mal ausgehen und zusammen etwas Schönes machen so wie früher, ist das so schwer zu verstehen?“ Gregor wand sich.
„Komm schon, Iris … es ist schließlich nur der Sonntag. Wir können doch am Samstag zusammen ins Kino gehen und danach meinetwegen noch in der Stadt essen. Einverstanden? Samstag Woody Allen und Sushi, Sonntag Mutters Geburtstag und Schwarzwälder Kirschtorte?“ Wütend fegte Iris die Blättchen zusammen und trug sie zur Biotonne hinüber. Irgendwie hatte Gregor es schon wieder geschafft, dass sie sich im Unrecht fühlte, obwohl sie doch wusste, instinktiv wusste, dass sie Recht hatte. Gregor stand auf und fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
„Ich muss noch ein bisschen an meinen Gutachten tun … ich bin im Arbeitszimmer, ja?“
2
Gregors Arbeitszimmer lag im Erdgeschoss des Hauses, ein heller, nahezu quadratischer Raum mit einem Fenster nach Osten, das einen wunderbaren Blick auf Iris´ kunstvolle Staudenrabatte gewährte, auf die sorgfältig nach Höhe und Farbe gestaffelten Lilien und Astern, Storchschnäbel, Monarden, Gräser und jeweiligen Dekoartikel, deren Auftritt Iris´ Intuition nach gerade gekommen war. Allerdings war der Zugang zum Fenster durch eine gewagte Konstruktion aus hüfthoch gestapelten Diakästen versperrt (Gregor hatte sich vor Jahren vorgenommen, über die nächsten Weihnachtsfeiertage den Scanner eines Kollegen zu leihen und alle alten Bilder zu digitalisieren, sortieren und beschriften, aber allein der Umfang dieser Arbeit und die Aussicht darauf waren so entmutigend, dass auch ein disziplinierterer Mann als er noch nicht die Kraft dazu gefunden hätte), flankiert von mehreren Jahrgängen „Der Neurologe“, „Stroke“, „Deutsche Medizinische Wochenschrift“ und dem „New England Journal of Medicine“, die er spätestens dann noch einmal lesen würde, wenn er die Dias gescannt hatte. Eine kleine Ausziehcouch – Erinnerung an seine Studentenzeit, in der er jeden zweiten Tag Übernachtungsbesuch gehabt und mit ihm das wahre Leben erlebt hatte – versteckte sich unter einer dicken Schicht angestaubter Patientenakten, die bei einer unglücklichen Blumengießaktion Gregors vor Monaten in Mitleidenschaft gezogen worden waren und in aller Ruhe trocknen sollten, nachdem die verantwortlichen Grünlilien des Zimmers verwiesen worden waren. Die raumhohen Regale beherbergten überquellende Ordner, in denen Gregors beruflicher Werdegang dokumentiert war, von den Mitschriften der ersten Anatomievorlesung über die kopierten Chirurgieskripte bis hin zu seinen persönlichen Notizen zu interessanten Fällen, die er irgendwann einmal zu einer Publikation zusammenfassen wollte. Die nagelneuen dunkelblauen Mappen des Arbeitskreises Qualitätsmanagement quetschten sich neben die Informationsbroschüren der kassenärztlichen Vereinigung und eine verbeulte Plätzchendose, in der Gregor die Marken ausländischer Briefe sammelte, fest entschlossen, das völlige Desinteresse seiner Kinder an diesem Gründerzeit-Hobby zu ignorieren. Irgendwo stand auch noch die andere Blechdose, Zwilling der ersten, in deren Bauch kopflose Playmobilpiraten, durchgebrochene Legoschienen und Batteriekästen mit ausgelaufenen Batterien immer noch geduldig auf den ärztlichen Eingriff warteten. Manchmal hatte Gregor den Eindruck, die ganze Welt warte auf seinen Eingriff. Seufzend bahnte er sich einen Weg zum Schreibtisch und schaltete den Laptop ein.
Читать дальше