Der Pavillon roch muffig, nachdem er so lange nicht gelüftet worden war, muffig und ganz leicht nach Desinfektionsmittel. Der große Arbeitstisch hatte sich in einen Bonsaifriedhof verwandelt – eine traurige Versammlung von vertrockneten Zwergbäumchen, die dem plötzlichen Wassermangel, dem plötzlichen Liebesentzug nichts hatten entgegensetzen können und sich stattdessen nach einem verfrühten Herbst in die ewige Winterruhe begeben hatten. An ein paar Ästchen hingen noch dürre braune Blätter, die zwischen den Fingern knisterten, sobald Karin sie berührte; die japanische Kiefer hatte sich hepatitisgelb verfärbt und ließ bei der ersten Berührung alle Nadeln fallen. Den Fächerahorn, Josefs Liebling und überhaupt eins der allerersten Gehölze der Sammlung, hatte er zu seinem vierzigsten Geburtstag von seinen Kollegen bekommen. Er hätte ihn selbstverständlich auch in unbelaubtem Zustand identifizieren können, und nicht nur ihn, sondern jeden einzelnen Baum, Karin dagegen konnte ihn jetzt ausschließlich an der jadegrün glasierten Schale erkennen. Aber sie hatte zu den Bonsais auch nie eine gute Beziehung gehabt, zu diesen widernatürlichen Gewächsen, die ihr Schöpfer sich mit Draht und Schere so vollständig unterworfen und zu Zwergen degradiert hatte. Muss das wirklich sein? , hatte sie gefragt. Musst du wirklich aus einem gesunden Baum so einen Krüppel machen? Er hatte sie daraufhin mit dieser Mischung aus Spott und Mitleid angesehen, mit der er sie gern an ihre intellektuelle Unterlegenheit erinnerte, oder vielmehr an das, was er für ihre intellektuelle Unterlegenheit hielt. Diese Pflanze hier ist alles andere als ein Krüppel , hatte er gesagt und den Ahorn hochgehalten. Sie ist ein Kunstwerk. In der chinesischen Kultur soll der Bonsai die Harmonie zwischen Mensch, belebter und unbelebter Natur darstellen. Sie hatte laut aufgelacht. Was bitte soll daran natürlich sein? Das einzige, was er für mich darstellt, ist ein Zeugnis der menschlichen Hybris! Weißt du, an was dieses Ding mich erinnert? An die eingeschnürten, verkrüppelten Füße, die die Chinesinnen sich früher haben binden müssen, um attraktiv zu sein. Vermutlich gab es für die auch so eine hochtrabende Rechtfertigung. Vermutlich waren sie ein Ausdruck der Harmonie zwischen männlichem Machtanspruch und weiblichen Fluchttendenzen. Wie hatte sie plötzlich den Drang gespürt, sich in eine erbitterte Grundsatzdiskussion zu stürzen, aber Josef hatte nur grinsend eine Gartenschere hochgehoben, die zufällig auf dem Tisch lag. Ist das nicht die Schere, mit der du immer die Rosen schneidest? – Das ist etwas ganz anderes! – Dann erklär mir den Unterschied! Ich bin sicher, im Grunde ist es genau dasselbe. Sie hob eins der Baumgerippe hoch und betrachtete es. Irgendwie waren sie damals nicht zum wahren Kern ihres Streits vorgedrungen; wahrscheinlich hatten sie es beide nicht wirklich gewollt. Heute kam es ihr vor, als wären sie bei allen wirklich wichtigen Fragen ihres gemeinsamen Lebens nicht bis zum Kern vorgedrungen, als hätte ihnen im entscheidenden Augenblick immer der Mut gefehlt. Sie wusste, es war eine Illusion zu glauben, dass zwischen ihnen die Dinge noch zur Sprache gekommen wären, über die sie jahrzehntelang geschwiegen hatten, wenn ihnen das Schicksal nur ein paar Monate mehr gegönnt hätte. Es war eine Illusion zu glauben, irgendwann hätten sie die wesentlichen Fragen gestellt. Sie wusste das, aber es machte ihren Schmerz nicht kleiner.
Schließlich trug sie die toten Pflanzen nach draußen, hob sie aus ihren Schalen und packte sie in eine Schubkarre. Am besten sollte man sie in den Häcksler stecken, um das Holz zu zerkleinern, aber schon die Vorstellung verstörte sie. Sie fuhr die Schubkarre nahe ans Ufer, dahin, wo der Garten in die natürliche Landschaft überging, und verbrachte zwei Stunden damit, ein Loch zu graben, die Bonsais hineinzubetten und dann das Loch wieder zuzuschütten. Völlig erschöpft setzte sie sich danach auf den Bootssteg und sah zu dem Pavillon hinüber. Sie würde niemals die Korbmöbel in den Pavillon stellen, von denen sie immer geträumt hatte, genausowenig, wie sie die Krankenhausmöbel ausräumen würde. Sie würde es vermeiden, den Pavillon überhaupt zu betreten. Es war, als hätte Josefs Tod zwar die Grenzen aufgehoben, die er ihren Wünschen und Bedürfnissen immer gesetzt hatte, aber gleichzeitig auf hinterhältige Art und Weise auch die Wünsche selbst ausgelöscht. Ihre neue Freiheit war nichts weiter als ein entsetzlich leerer Raum, vor dem sie sich fürchtete.
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