Irgendwann kam auch der letzte Redner zum Ende (Thea hatte sich keinerlei Mühe gegeben, den immer ähnlichen devoten Worten zu folgen), und die Sargträger erhoben sich, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu geben. Es waren ausnahmslos Ärzte, die Bergholtz in seinen Jahren als Chirurg selbst ausgebildet hatte. Sie hatten Mühe, das Gewicht auszubalancieren und Tritt zu fassen, und der Sarg mit den weißen Rosen und Lilien darauf schwankte bedenklich auf ihren Schultern. In dem Augenblick, als sie die Kapelle verlassen wollten, entstand Unruhe unter den Trauergästen. Ein widerlicher, penetranter Geruch breitete sich zwischen ihnen aus und erfüllte binnen Sekunden den ganzen Raum. Er reizte zum Husten und zwang dazu, sich ein Taschentuch vor Mund und Nase zu pressen. Die Sargträger stürzten mit ihrer Last fluchtartig nach draußen, aber die übrige Trauergemeinde hatte nicht die Chance, sich genauso schnell in Sicherheit zu bringen – zu voll waren die Bänke, und überdies hatte der Mesner noch ein paar Stühle zusätzlich in den Eingangsbereich gequetscht. Thea spürte den Brechreiz in sich aufsteigen und hatte sofort das Bild einer Gruppe feixender Dreizehnjähriger vor Augen, die vor einer gefühlten Ewigkeit auf diese Weise eine öde Physikstunde vorzeitig beendet hatten. Buttersäure. Ohne Zweifel hatte jemand in der Kapelle eine ganze Batterie von Stinkbomben losgelassen.
„So eine Unverschämtheit“, zischte Winfried und zog sie hinter sich her zum Ausgang. „Das hat noch ein Nachspiel … das lasse ich mir nicht gefallen! Sie ziehen die ganze Familie in den Dreck!“ Endlich an der frischen Luft, registrierte Thea zufrieden, wie sich die ausgetrockneten Flussbetten in ihrer emotionalen Wüste mit einem Strom aus Empörung und, ja, Schadenfreude anfüllten. Was für ein Tag, dachte sie. Die Tatsache, dass Bergholtz definitiv seinen letzten Atemzug getan hatte und nie wieder eine ätzende Bemerkung über ihren Geschmack, ihr Aussehen oder ihre Intelligenz machen würde, hatte unbedingt auch ihre guten Seiten.
„Was für eine Frechheit! Eine unglaubliche Respektlosigkeit dem Toten gegenüber!“ Das Café, das für den kleinen Imbiss nach der Beerdigung ausgewählt worden war, platzte aus allen Nähten; niemand hatte mit einem solchen Ansturm gerechnet. Winfried stand Friedrich Bergholtz gegenüber, Josefs jüngerem Bruder, der der schäumenden Empörung seines Neffen mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der einen Hand und einem Teller mit Streuselkuchen in der anderen wehrlos ausgesetzt war. „Was für eine unglaublich infame Beleidigung! Mutter ist völlig am Ende. Ich verstehe nicht, wie jemand zu so einer Gemeinheit fähig sein kann.“
„Vielleicht war es Zufall, dass es ausgerechnet diese Beerdigung getroffen hat“, versuchte Friedrich ihn zu besänftigen. Er war Pfarrer im vorzeitigen Ruhestand, ein distinguierter älterer Herr mit adretten grauen Löckchen und freundlichem Doppelkinn über dem weißen Kollarkragen, und versöhnlicher Sanftmut war sein wohlerprobtes Mittel, um alltäglichen Konflikten unbeschadet zu entkommen. „Eine Mutprobe, ein dummer Jungenstreich … “
„Ach was.“ Bergholtz junior wischte den Einwand zur Seite; versöhnlicher Sanftmut kam in seinem Lebenskonzept nicht vor. „Ich denke, es handelt sich um groben Unfug, Störung der Totenruhe und versuchte Körperverletzung. Ich werde Anzeige gegen Unbekannt erstatten.“ Unbehaglich sah sein Onkel sich um, ob sich nicht wenigstens ein Tischchen fände, wo er seine Tasse abstellen und dann würdevoll in den Nebenraum flüchten könnte. Aber in dem Gedränge war kein Durchkommen, und Winfried machte keinerlei Anstalten, ihn aus seinen Fängen zu entlassen.
„Hast du irgendeine Vorstellung, wer zu einem solchen – Streich fähig wäre? Oder Grund dazu hätte?“
„Grund dazu? Was willst du denn damit sagen?“, fragte Winfried feindselig. „Welchen Grund könnte es geben, die trauernden Angehörigen eines Verstorbenen zu beleidigen? Den Verstorbenen selbst?“
„Nun, ich – du hast ganz recht, mein Junge. Vielleicht könnten wir – “
„Einen leidenschaftlichen Arzt, der versucht hat, den Menschen zu helfen! Unzählige Patienten sind ihm dankbar. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das jedes Jahr zu Weihnachten ist, wie viele Grußkarten und Päckchen er immer bekommt! Warum sollte man so jemandem etwas Böses wollen?“
„Ich weiß es auch nicht. Winfried – oh, ich glaube, ich habe den Dekan entdeckt! Bitte entschuldige mich, ich will ihn gern begrüßen.“
Was auch immer der Stinkbombenleger bezwecken wollte: An Karin Bergholtz war seine Attacke vorbeigegangen. Ein einziger Augenblick hatte ihr Lebenslandschaft aufgerissen wie ein gigantisches Erdbeben; hilflos, orientierungslos irrte sie zwischen den Rauchwolken herum und konnte nicht verhindern, dass unvergängliche und scheinbar ewige Lebenskomponenten auf der schiefen Ebene ihres Daseins plötzlich ins Rutschen gerieten und durch diesen Riss ins Nichts verschwanden. Das Haus, das Josef und sie so lange gemeinsam bewohnt hatten, bot keinen Schutz mehr, und die vielen Hände, die sich nach ihr ausstreckten, waren eine Qual. Ihre Möglichkeit, diese Tage zu überleben, ihre einzige Möglichkeit bestand darin, sich abzukapseln vor dem bedrohlichen Außen, sich aufzuspalten in einen Teil, der handelte und redete und entschied, der Texte aussuchte, Hände schüttelte und sogar fertigbrachte, eine Schaufel mit Erde in dieses furchtbare Loch zu werfen, und in einen anderen Teil, der sich hinter der Fassade in Sicherheit gebracht hatte. Unverletzlich. Unberührbar.
Einige Alltagsrituale waren geblieben, Landmarken, die dem Chaos ein Minimum an Struktur verliehen: Die Zeitung steckte immer noch jeden Morgen im Briefkasten, ebenso wie die Post jeden Mittag. Am Dienstag und am Freitag kam die Putzfrau. Die Walking-Gruppe traf sich montags, mittwochs der Literaturkreis, Freitag Nachmittag war Dienst im Tafelladen. Die Kinder verstanden nicht, dass ihr das so wichtig war. Sie verstanden nicht, warum sie darauf beharrte, keinen dieser Termine ausfallen zu lassen („du musst dir das doch nicht zumuten!“), verstanden nicht, dass das Schwierige nicht in diesen durchorganisierten Zeitabschnitten lag, sondern in dem gefräßigen Nichts dazwischen. In dem Nichts, das plötzlich über sie herfiel, wenn sie wieder viel zu viel Kaffee zum Frühstück gekocht hatte oder eins von seinen getragenen Hemden in der Wäsche fand; wenn sie im Laden nach seiner Lieblingsschokolade suchte oder im Keller nach dem großen Schraubenzieher, mit dem er immer die Schrauben an den Gartenstühlen nachgezogen hatte; wenn sie für Augen, die nicht mehr lesen würden, einen Artikel in der Zeitung angestrichen hatte oder auf eine unbedacht geäußerte Frage keine Antwort bekam. So wie sie auf nichts mehr eine Antwort bekommen würde.
Angesichts der Katastrophe hatte sie einige Tage gebraucht, bis sie den Umstand, dass Josefs Tod einem Autounfall geschuldet war, in seiner vollen Bedeutung realisiert hatte. Dass auch Josef noch all die Jahre später einem Autounfall zum Opfer gefallen ist. Nachdem diese Erkenntnis sich einmal an die Oberfläche ihres Bewusstsein gekämpft hatte, ließ sie sich nicht mehr verdrängen. Sie wuchs und wuchs zu einer Bedrohung, die ihre Gedanken und Gefühle lähmte und sie dazu trieb, an einem Nachmittag in das unbewohnte Dachgeschoss zu steigen und eine Stunde lang vor einem geöffneten Mansardenfenster zu stehen, den gemauerten Treppenaufgang in sicherer Entfernung unter sich. Sie hörte das dunkle Wasser ans Ufer schwappen und den warnenden Schrei des Bussards über den reifenden Weizenfeldern und dachte, wie es wäre sich fallen zu lassen, konzentrierte sich nur auf diese Worte: sich fallen lassen. Wie sie über das Sims klettern würde; wie sie auf dem Fensterbrett stehen und ihren Körper nach vorn kippen lassen würde. Wie die Sohlen sich vom Untergrund lösen und der Wind über ihr Gesicht streichen würde, bevor sie auf dem Boden aufprallte, viel zu schnell, um Angst oder Zweifel zu spüren. Was sie davon zurückhielt, diesem Impuls zu gehorchen, wusste sie hinterher nicht. Vielleicht war es das Gefühl, dass es nicht recht wäre, sich jetzt davonzustehlen; dass alle Schuld getragen werden wollte.
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