Karin Bergholtz hatte also keine Zeit für Stinkbombenattentäter. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um sich von einer Landmarke zur nächsten zu schleppen, ohne von den plötzlich überall klaffenden Spalten verschlungen zu werden. Sie wollte nur überleben. Allerdings erreichte sie am Tag nach der Beerdigung die Nachricht, dass jemand die Kränze und Gebinde auf Josefs Grab mit schwarzer Farbe besprüht hatte, so dass die Friedhofsgärtner sie entfernen und wegwerfen mussten. Ob sie wünsche, dass man ein paar neue Kränze besorgen solle? Ja, das wünschte sie. Auch diese neuen Kränze hielten nur zwei Tage, bevor sie besudelt wurden, diesmal in blutrot. Außerdem war ein Plakat aufgestellt worden mit der Aufschrift: Hier liegt der Mörder Bergholtz . Karin hatte eigentlich nicht vorgehabt, jeden zweiten Tag zum Friedhof nach Starnberg zu fahren, fühlte sich jedoch durch diese Ereignisse dazu gezwungen. Die welken Kränze (genauer gesagt, die welken Ersatzkränze mit ihren trotz mühsamer Reinigung immer noch fleckigen Schleifen , In ewiger Treue – Burschenschaft Albingia‘ , oder: ‚ Dem Pionier und Mentor – Belegschaft Schneefernerklinik‘) waren inzwischen vorzeitig weggeschafft worden; stattdessen hatte der Gärtner auf die Schnelle ein paar Stiefmütterchen eingepflanzt, Azaleen und Immergrün, eine Kombination, die Karin in ihrem Garten nie dulden würde. Sie hatten vorher nie miteinander darüber gesprochen, aber Karin war sicher, dass Josef keinen besonderen Wert darauf gelegt hätte, dass seine Witwe regelmäßig sein Grab besuchte. Dass er gerade dort bestattet war, entsprach keinem persönlichen Wunsch und keiner besonderen Vorliebe, sondern beruhte allein darauf, dass Winfried angeboten hatte, sich um alles zu kümmern. Er hatte in Starnberg bereits für seine Schwiegereltern eine Gruft gekauft und kannte sich mit den dortigen Gegebenheiten gut aus. Karin hatte nicht widersprochen, als er Starnberg vorgeschlagen hatte, obwohl der Murnauer Friedhof deutlich näher gewesen wäre. Widerspruch hätte eine Kraft erfordert, über die sie nicht mehr verfügte.
Das Grab auf dem Starnberger Waldfriedhof, überhaupt der ganze Friedhof war kein Ort, an dem sie sich ihrem verstorbenen Mann besonders nahe fühlte oder der besondere Rührung in ihr hervorrief. Sie stand auch nicht stundenlang davor, hing traurigen Erinnerungen nach und kämpfte mit den Tränen. Nein, sie holte den kleinen Mercedes aus der Garage, fuhr die knapp fünfzig Kilometer bis Starnberg, stellte den Wagen auf dem Parkplatz am Eingangstor ab, lief den Hauptweg entlang und wartete angespannt auf den Augenblick, an dem sie das Grab zu Gesicht bekam, das Grab und die Botschaften, die jemand vielleicht wieder darauf hinterlassen hatte – Schmierereien auf dem provisorischen Holzkreuz, beleidigende Plakate, verwüstete Blumenarrangements. Wenn der Unbekannte dagewesen war, alarmierte sie einen der zuständigen Gärtner. Wenn nicht, verharrte sie stumm vor den sechs Quadratmetern frisch geharkten schwarzen Mutterbodens, vor Veilchen und Immergrün und wartete auf die Empfindungen, die sich nach der anfänglichen Erleichterung einstellen würden: Trauer natürlich, Einsamkeit, Verwirrung, Unbehagen. Es kam ihr immer so vor, als müsse da noch etwas anderes sein.
Heute konnte sie schon vom Hauptweg aus erkennen, dass etwas nicht in Ordnung war: Mehrere Friedhofsarbeiter standen gestikulierend vor der Grabstelle, Schubkarren und Plastikplanen blockierten den gekiesten Zugangsweg. Kurz überlegte sie, ob sie nicht einfach Winfried anrufen, umdrehen und nach Hause fahren sollte, bevor jemand sie bemerkte, aber schließlich lief sie doch zu den Männern hinüber, an kleinen Buchshecken vorbei und sauber geharkten Beeten, die das Chaos auf der Bergholtz-Gruft noch einmal besonders unterstrichen.
„Es ist eine unglaubliche Sauerei“, war das erste, was der Gärtnermeister zu ihr sagte. „So was hab ich noch nie erlebt! Die müssen heute früh hier reingekommen sein, gleich nachdem der Micha das Tor aufgeschlossen hat, und das Zeug hier abgekippt haben.“ Die zarten violetten und gelben Stiefmütterchen, die fehlplatzierten Azaleen waren unter einer Schicht von halbverrotteten Abfällen verschwunden – matschigen und angeschimmelten Früchten, stinkigen Kartoffelschalen, grünlich schillernder Wurst, fauligem Stroh, als hätte jemand den Inhalt mehrerer Biotonnen hier ausgeleert. Mistfliegen schwirrten um etwas herum, das an Hundekot erinnerte. Einer der jüngeren Gärtner griff mit bloßen Händen in den Unrat hinein und holte einen Knochen heraus, an dem noch faserige Fleischreste hingen.
„Das können wir nicht in den Kompost schaufeln, Chef“, stellte er sachkundig fest. „Da ist Fleisch dran, das lockt bloß die Ratten an.“
„Kann man – kann man herausfinden, wer dafür verantwortlich ist?“, hörte Karin sich fragen. Sie brauchte ihre ganze Konzentration, um gegen die Übelkeit anzukämpfen. Es gab wenig, was sie nicht ansehen konnte, Blut, Dreck, Eiter, es machte ihr nichts aus, aber gegen Gerüche konnte sie sich nicht zur Wehr setzen. Gerüche drangen durch unkontrollierbare Öffnungen in ihren Körper ein und machten sich in den animalischen Niederungen ihres Wesens breit, wo nichts und niemand ihr gehorchte. Sie suchte hektisch nach einem Erfrischungstuch. „Haben Sie die Polizei informiert?“ Der junge Mann, der den Knochen herausgeangelt hatte, schüttelte den Kopf. Beim Anblick seiner fleischigen nackten Hände (er hatte die Daumen mittlerweile lässig in den Gürtel gehakt) spürte Karin einen heftigen Würgereiz.
„Wir können nicht warten, bis die kommen und sich hier den Tatort ansehen“, erklärte der Meister entschieden und schob mit der Fußspitze einen nässenden Kohlkopf zur Seite. „Das ist eine Zumutung. Wir müssen das Zeug wegschaffen, bis heute Nachmittag hier alles voll ist mit Besuchern. Also, Micha, Toni, holt euch Schaufeln und schafft die Sauerei rüber zum Müllcontainer. Ich ruf´ bei der Stadt an und frage, ob die heute noch kommen können und das Zeug abholen. Und morgen richten wir das Grab wieder her, das wird wieder ganz schön.“ Er griff nach Karins Schulter und schob sie ein paar Meter weiter. „Sie haben doch schon mal Anzeige erstattet, Frau Professor, stimmt´s? Da kommt nix bei raus, wenn Sie das jetzt noch mal machen, den kriegen Sie nie. Am besten, man reagiert gar nicht, dann vergeht diesen Arschlöchern des Spaß daran.“
„Das ist so widerlich“, flüsterte Karin. Idiotischerweise hatte sie keinen dringenderen Wunsch, als sich den Mund auszuspülen. „Kann ich hier irgendwo ein Glas Wasser bekommen?“ Ja, das sei kein Problem. Es gebe ein Büro, wo er die Verwaltungsarbeit erledige, da sei alles zu finden. Ob es ihr wieder besser gehe? Der Gärtner richtete sich an seiner eigenen Autorität auf, befand Karin. Beneidenswert. Das Wasser, das er ihr schließlich reichte, schmeckte nach Torf und verrottetem Laub.
Später blieb sie noch lange mit geschlossenen Augen in ihrem Auto sitzen und versuchte sich zu entspannen. Aber der Geruch war ihr gefolgt und machte es sich im Wageninneren bequem, kroch unter ihren Rock, legte ihr seine modrigen Arme um den Hals. Bilder von Fäulnis, Gärung und Verfall irrten durch ihren Kopf, von halbverwesten Knochen, blutverschmierten Federn und augenlosen Hühnerschädeln – von einem altbekannten Grauen, das durch den gemeinen Geruch, durch den Anblick des Knochens aus seinem Käfig befreit worden war. Es witterte ihre Schwäche und wetzte die Krallen.
Die Fahrt zurück beruhigte sie, der zuverlässig grüne Wald, die Seen, die Alpenkulisse. Es lag ein Trost darin, dass die Zeit voranschritt, ohne dass es dazu einer menschlichen Anstrengung bedurfte. Es lag ein Trost in der Unbeirrbarkeit der Natur, die über Karins Unglück einfach hinwegging. Es lag ein Trost in dem Gedanken, dass sich die Jahreszeiten auch nach dem eigenen Tod weiterhin abwechseln würden, dass es weiterhin regnen, stürmen, schneien würde, die Vögel singen, sich vermehren und in den Süden ziehen würden. Heute war einer der wenigen Wochentage, an denen keine weitere Aktivität eingeplant war – kein soziales Engagement, kein Sport, keine Freunde. Einer der wirklich schwierigen Tage, die durchgekämpft werden wollten. Das einzige, was an solchen Tagen half, war Arbeit, deshalb beschloss Karin, den Gartenpavillon aufzuräumen. Sie holte die Schubkarre aus dem Schuppen und schob sie zu dem kleinen Gebäude hinüber, um gründlich Ordnung zu schaffen und auszusortieren. Wie eigenartig, dachte sie unwillkürlich, als sie die verschnörkelten Metallstreben in der Sonne glänzen sah, dass sie ihr Herz einmal an solche sinnlosen Dinge gehängt hatte. Dann fiel ihr auf, dass die handgeschmiedete Stellage neben der Tür leer war. Normalerweise standen die Schalen mit den Bonsaibäumchen darauf, angeordnet nach ästhetischen Gesichtspunkten, die zu erklären Josef sich immer geweigert hatte („Wenn du dich nicht mit den chinesischen Vorstellungen von Harmonie auseinandergesetzt hast, kannst du nicht verstehen, was das Arrangement bedeutet. Und stell um Himmels willen nichts um! Am besten lässt du einfach ganz die Finger davon.“). Erst jetzt, als sie die leeren Stellbretter vor sich hatte, fiel ihr ein, dass Josef ja an seinem letzten Abend noch davon gesprochen hatte, wie er alle Pflanzen einräumen wollte, um sie dann am nächsten Tag neu zu drahten und nachzuschneiden. Sie verlangsamte ihren Schritt, musste sich zwingen, die Türklinke herunterzudrücken und einzutreten.
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