In dem Moment kam Madame Debra mit einem vielleicht zehnjährigen Mädchen zurück, stieß es in Tissons Richtung.
Das Kind konnte sich kaum aufrecht halten. Seine Wangen waren eingefallen, die Haut wirkte pergamentartig. Wie ein Tier aus seiner Höhle stierte es Tisson an.
Er fühlte seine Stirn. Eiskalt. Er zwickte das Mädchen in den Arm. Die Hautfalte blieb stehen. Es stöhnte nicht einmal.
„Das Kind ist völlig ausgetrocknet“, sagte er.
„Was soll ich machen?“, fragte die Frau. Vor vier Tagen habe sich das Mädchen erbrochen und dann Durchfall bekommen. „Sie macht mir die ganze Bude voll. Dabei gibt es im Hof einen Abort. Aber sie kackt in die Ecke!“
„Madame Debra, das Kind ist schwer krank.“
„Ich meine ja nur. Wir haben hier kein fließend Wasser wie die feinen Herrschaften. Ich muss jedes Mal zum Brunnen im Hof laufen. Ich bin den ganzen Tag nur damit beschäftigt, den Dreck wegzumachen. Und dann habe ich noch keinen Sous verdient.“
Tisson zog das Mädchen zu sich heran und hörte es ab. Wenigstens waren die Lungen frei. Er wies die Mutter an, ein Glas Wasser und etwas Zucker zu bringen.
Die Alte blieb neben dem Stuhl stehen. „Ich hab’s Ihnen doch gerade gesagt: Hier gibt es kein fließend Wasser.“
„Dann bringen Sie mir Wein und einen Löffel.“
Die Frau murmelte, „Wein soll ich bringen, hat man das gehört?“, schlurfte aber in die Küche.
Sie kam mit einer blassroten Flüssigkeit zurück. Tisson hielt das Glas gegen das Licht. Flocken trieben darin.
Madame Debra rang die Hände. „Was soll ich denn tun? Wir trinken alle den Wein mit Wasser gestreckt. Dass Leute wie Sie das nicht verstehen.“
Tisson roch an dem Wasser, befand es für ausreichend und begann dem Mädchen löffelweise den Wein einzuflößen.
Madame Debra ging im Zimmer auf und ab, warf immer wieder einen Blick auf das Mädchen in Tissons Arm.
„Sie sehen doch, wie wir leben“, sagte sie. „Da hilft es nicht, wenn man einen Mitesser hat, der keine regelmäßige Arbeit findet, weil er ständig auf Wanderschaft geht. Und jetzt auch noch das Kind krank.“
„Jetzt seien Sie endlich still.“ Die Frau war nicht zu ertragen. Kein Wunder wollte Henri lieber im Hospital bleiben.
Das Mädchen drückte Tissons Hand. Hatte sein harscher Tonfall es erschreckt? Er stellte das Glas ab, streichelte die Wange des Kindes, bis sich dessen Griff wieder löste, und gab ihm den Rest zu trinken.
„Wo schläft das Kind?“, fragte er, woraufhin Madame Debra ins Nebenzimmer huschte.
Tisson folgte ihr, das Mädchen auf dem Arm. Im trüben Licht einer Petroleumlampe, konnte er gerade noch sehen, wie Madame Debra Kissen und Decke von zwei aneinander gestellten Stühlen nahm, die offensichtlich als Schlafstatt für das Mädchen dienten, und auf dem einzigen Bett im Raum ausbreitete.
„Hier“, sagte sie und klopfte mit der Hand auf die Matratze.
Tisson legte das Mädchen vorsichtig darauf ab.
Wieder in der Stube sagte er zu Madame Debra: „Wenn Sie sich nicht um das Kind kümmern, wird es sterben.“
„Sagen Sie doch so etwas nicht. Herr Doktor, bitte. Natürlich kümmere ich mich um sie. Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?“
Sie schlug die Hände vors Gesicht.
„Sie haben gesehen, wie ich ihr gerade den Wein eingeflößt habe?“
Die Frau nickte in ihre aneinander gelegten Hände hinein.
„Jede halbe Stunden geben Sie ihr Wein mit Zucker. Und eine Kante Brot. Haben Sie das verstanden?“
In ein paar Tagen werde er wiederkommen. Wenn noch jemand im Haushalt erkranke, solle sie ihm unverzüglich Bescheid geben.
„Herr Doktor, wie stellen Sie sich das vor? Jede halbe Stunde. Ich bin jetzt schon hinterher. Hundert Sträuße hätte ich heute Morgen abliefern sollen. Die Kiste steht auf der Kommode und es sind nur fünfzig Sträuße darin. Und jetzt, wo das Kind mir nicht helfen kann, fehlt das Geld an allen Ecken und Enden.“
„Machen Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Dann wird Rosalie auch bald wieder gesund und kann Ihnen helfen.“ Die Schrunden an den Fingern des Mädchens waren ihm nicht entgangen.
Madame Debra richtete sich auf. „Wir sind arme Leute. Da muss jeder mithelfen.“ Trotz lag in ihrer Stimme.
„Ich weiß, wie das ist, mit knurrendem Magen einschlafen zu müssen“, sagte er. Er hatte sich als Waise das Schulgeld selbst verdienen müssen und oft genug am Essen gespart.
„Das sieht man Ihnen jetzt aber nicht mehr an“, sagte sie und boxte ihn in die Seite.
„Wann kommt eigentlich Ihren Schwager zurück?“, fragte Tisson und wuchtete die Arzttasche zwischen sich und die Frau, um das Stethoskop darin zu verstauen.
Madame Debra legte den Kopf schräg. „Nicht vor dem Abendessen, wieso?“
„Nimmt er regelmäßig seine Arznei?“
„Das kommt noch dazu“, begann Madame Debra, erneut zu lamentieren, und eine Schläue schlich sich in ihr Gesicht. „Das Geld für die Arznei. Den Armen nimmt man’s, wo es nur geht. Aber wem sage ich das, Herr Doktor. Sie wissen ja offensichtlich selbst, wie das ist.“ Sie sah Tisson auffordernd an.
Wortlos legte der eine Münze auf den Tisch, obwohl er wusste, dass sie die Arznei umsonst erhalten hatte.
„Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Ich danke Ihnen. Sie sind ein wahrer Freund der Armen. Ich werde Henri Bescheid sagen, dass Sie hier waren.“ Sie ließ die Münze in ihrer Rocktasche gleiten. „Soll ich ihn ins Hospital schicken, wenn er kommt?“
„Das ist nicht nötig. Aber für das Kind gezuckerten Wein, jede halbe Stunde, und etwas Brot. Haben Sie verstanden?“
„Ja, doch, ja“, sagte sie und brachte Tisson zur Tür.
Am nächsten Morgen stellte Tisson gerade sein Véloziped im Schuppen unter, als ihm der Stallbursche entgegenkam und sagte, er solle zum Professor, „Sofort!“
„Wann wollen Sie denn den Professor schon gesehen haben?“, fragte Tisson und zog seine Uhr aus der Rocktasche. „Morgens um kurz nach acht?“
Der Stallbursche stützte sich auf seine Mistgabel und sagte: „Der Herr Professor und ich, wir unterhalten uns jeden Morgen über die Pferde. Er liebt Pferde. Um acht Uhr morgens genauso wie um acht Uhr abends.“ Er kniff die Augen zusammen. „Er schätzt meinen Rat, was Pferde betrifft.“
„Schon gut. Hat er gesagt, worum es geht?“
„Er hat vor allem gesagt: sofort“, erwiderte der Stallbursche und kippte Tisson eine Gabel Mist vor die Füße.
Tisson sprang zur Seite und hastete in das Gebäude. Hatte Aupy etwa erfahren, dass er Henri zu Hause aufgesucht hatte? Und wenn schon, er hatte dessen Nichte behandelt. Aupy konnte ihm nichts vorwerfen.
Tisson wischte sich die Locken aus dem Gesicht, klopfte an und betrat Aupys Arbeitszimmer.
Aupy schlug sein Notizbuch zu, fixierte Tisson. „Ich habe es schon einmal gesagt: für die Patienten mögen Sie Arzt sein, für mich nicht. Und solange Sie das nicht sind, geben Sie sich auch nicht dafür aus. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Ich versichere Ihnen, Herr Professor, ich habe nichts dergleichen getan.“
„Man hat Sie mit diesem portugiesischen Armenarzt gesehen“, schnitt ihm Aupy das Wort ab. „Ich nehme nicht an, dass Sie ihn begleitet haben, um nach Hysterischen Ausschau zu halten?“
Der Blumenstrauß, der Rotschopf. Deswegen war der ihm bekannt vorgekommen.
„Was auch immer man Ihnen berichtet haben mag, Herr Professor, ich schaue Dr. Laçao lediglich über die Schulter. Es geht mir um die praktische Anschauung.“
„So, so. Praktische Anschauung. Dann kommen Sie mal mit.“
Tisson folgte ihm ins Nebenzimmer, wo Arlette, das Mädchen mit dem Kirschmund, auf einem Stuhl saß, die Beine übereinander geschlagen.
Aupy zog einen Stab aus seiner Rocktasche hervor und reichte ihn Tisson.
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